Der Kriegspsychologe «70 bis 80 Prozent aller Männer können zum Krieger werden»

Von Alex Rudolf

23.2.2023

Was bewirkt der Jahrestag bei den Krieger*innen? Soldaten der russischen Armee üben auf einem Truppenübungsplatz im Gebiet Donezk.
Was bewirkt der Jahrestag bei den Krieger*innen? Soldaten der russischen Armee üben auf einem Truppenübungsplatz im Gebiet Donezk.
Alexei Alexandrov/AP/dpa

Wie geht es den jungen Männern und Frauen an der ukrainischen Front? Ein Kriegspsychologe sagt, sie schweben zwischen Trauma und Blutlust – die jeden von uns ergreifen kann.

Von Alex Rudolf

Vor einem Jahr griffen Wladimir Putins Truppen die Ukraine an. Seither herrscht ein Krieg, der das Weltgeschehen bestimmt. Besonders die Brutalität, mit der die Soldat*innen vorgehen, besorgt die Weltgemeinschaft. Wie kann es so weit kommen und wie sieht es in den Köpfen der Krieger*innen beider Seiten aus?

Einer, der das weiss, ist Thomas Elbert. Der emeritierte Professor für klinische Psychologie und Verhaltensneurowissenschaften an der Universität Konstanz spezialisierte sich auf die Trauma-Forschung. Mehrere Feldstudien in den Krisenherden dieser Welt gaben ihm einen vertieften Einblick, wie wir Menschen mit bewaffneten Konflikten umgehen.

Lässt sich sagen, wie es den Kämpfer*innen psychisch geht?
Mein Team und ich haben viele untersucht und wir können sagen, dass sie sich in einem Spannungsfeld befinden. Auf der einen Seite quält sie grosses Leid, das sie seelisch krank macht. Auf der anderen Seite können Menschen zu Jäger*innen auch auf Menschen werden. Man empfindet Lust an der Aggression.

Was bewirkt diese Lust?
Sie verhindert, dass die Soldaten seelisch krank werden, sorgt aber auch dafür, dass sich diese Lust am Töten zu einem wahren Blutrausch entwickeln kann. Wie ein Geschwür frisst sich diese Lust in den Menschen hinein, bis er zu einem grausamen Wesen wird, wie es etwa die Söldner der Wagner-Truppe sind.

Ist diese Blutlust, wie Sie sie auch nennen, in uns allen drin?
Ja, denn der Mensch ist evolutionär auf tierische Proteine angewiesen. Auf die Jagd zu gehen, musste den Steinzeit-Menschen Spass machen. Jene, die nicht gerne jagten, starben mit der Zeit aus. Heute leben wir diese Lust an Kampf und Wettbewerb in anderer Form aus – etwa beim Boxen oder beim Fussballspielen. Nur so lässt sich erklären, dass wir uns anderthalb Stunden anschauen, wie 20 Leute einem Ball hinterherjagen. Diese Lust lässt sich auch ummünzen auf eine Lust auf die Jagd nach Menschen.

Das kann jeder Mensch?

Grundsätzlich ja. In Ostafrika wurde eine ganze Schulklasse entführt, 30 Prozent der Jungs kamen ums Leben. Die restlichen wurden alle zu Kämpfern mit Lust und Faszination für die Jagd. Sie vergessen, dass sie selber verletzt oder getötet werden können. Ich würde sagen, zwischen 70 und 80 Prozent der Männer können zu Kriegern werden.

Gibt es Unterschiede zwischen den Geschlechtern?
Das weiss man nicht genau. Zwar gab es immer schon Jägerinnen, dennoch werden Frauen in der Regel nicht an die Front geschickt, sondern als Sklavinnen, Sex-Sklavinnen oder für die Logistik eingesetzt. Jene, die an die Front gingen und beobachtet werden konnten, berichten ebenfalls diese Blutlust. Beispielsweise sahen wir dies bei den Black Tigers in Sri Lanka. Üblicherweise sind dies Frauen, die bereits viel Gewalt erlebt haben.

Thomas Elbert
zVg

Sie sprechen vornehmlich über junge Menschen. Gilt auch: Je jünger die Rekrutierten, desto folgsamer sind sie?
Es gibt zwischen dem 12. und 17. Altersjahr ein Fenster, in dem das Hirn das Jagdhandwerk und die Lust daran besonders gut lernt – für andere Bereiche, etwa beim Erlernen eines Akzents, gibt es ebenfalls solche Zeitfenster. Gleichzeitig sind auch die moralischen Hemmschwelle in diesem Alter sehr leicht zu manipulieren. Etwa, wenn Führungspersonen die Gegner als Kakerlaken bezeichnen

Jahrestage geben oft Anlass, Bilanz zu ziehen. Was bewirkt das bei den Soldat*innen?
Flüchtende wie auch Soldat*innen wurden an Leib und Leben bedroht und stecken nun seit einem Jahr in dieser Bedrohungslage fest. Selbst wenn ihnen die Flucht in die Schweiz gelungen ist, das Bedrohungsgefühl bleibt. Am Jahrestag wird dieses verstärkt in Erinnerung gerufen – dann geht es den Menschen wirklich schlecht.

Auch jenen, die hier in der Schweiz in Sicherheit sind?
Ja, auch denen, die psychisch gesund geblieben sind, geht es an diesem Tag schlechter als sonst.

Sie fertigten Feldstudien aus verschiedenen Kriegsgebieten an – unter anderem Afghanistan, Sri Lanka und Uganda. Was ist allen Kriegen gemein?
Sie sind schrecklich und grausam. Folter und Vergewaltigung werden in allen Kriegen begangen. Und keine der Kriegsparteien hält sich an die rechtlichen Rahmenbedingungen – weder an die UNO-Menschenrechtskonvention, noch an andere Vereinbarungen etwa hinsichtlich der Behandlung von Gefangenen. Das geschieht aber jeweils in unterschiedlichem Ausmass.

Und die Zivilbevölkerung?
Auch diese lebt jeweils in Angst und Schrecken, weil sie nicht weiss, wann der Krieg zu ihr ins Haus kommt. Die Zurückgelassenen kommen jeweils auch nicht zur Ruhe. Ich weiss von einer Mutter, die noch 30 Jahre nach dem Verschwinden ihres Sohnes Briefe an ihn schreibt – auch diese Narben weisen alle Kriege auf.