Die Letzten Ihrer ArtHut ab vor dieser Kunst, und ein cooles Statement ist es auch
Barbara Schmutz
17.4.2019
In der Hutwerkstatt Risa im aargauischen Hägglingen, einem Familienbetrieb, fabrizieren Geschäftsführer Julian Huber und sein Team Hüte, Schild- und Schirmmützen. Man macht sich keine Vorstellungen, wie viel Aufwand und Akribie dahintersteckt.
Als sich die Türe zur Hutwerkstatt Risa hinter der Besucherin schliesst, fühlt sie sich, als hätte sie eben eine Zeitreise angetreten. Zurück in die Vergangenheit, ins Jahr 1919. Damals eröffnete J. Marin Geissmann im aargauischen Hägglingen eine Hutmanufaktur.
In der Hochblüte der Strohhutflechterei, als die Kopfbedeckungen aus dem Freiamt über die Landesgrenzen hinaus gefragt waren. In Florenz, Paris, London, Wien und New York schmückten sich modebewusste Städterinnen mit Hüten aus dem Aargau.
Die Maschinen in der Hägglinger Hutwerkstatt sind zu einem grossen Teil so alt, wie die Fabrik selbst, 100 wird sie dieses Jahr. Und auch die neueren Modelle sind bereits seit gut 70 Jahren in Betrieb. Computergesteuert ist keine einzige.
In derjenigen, die aussieht wie ein riesiger Dampfkochtopf, werden die Wollfilz-Stumpen, die Hut-Rohlinge, für die Weiterverarbeitung geschmeidig gemacht. Eine andere, die an einen Hau-den-Lukas-Apparat erinnert, verpasst dem Hut-Kopfteil mit hohem Druck und einem wassergefüllten Ballon die gewünschte Form.
Der Strohhut-Boom
Acht bis 20 Arbeitsschritte braucht es für einen Wollfilzhut aus Hasen- oder Biberhaar, Kaschmir oder Schurwolle. Der Stumpen wird bedampft, über Holzköpfen in zehn Grössen, von 53 bis 63, in Form gezogen, plattiert, das Haar mit einem feinen Schleifpapier geschliffen, bis es glänzt, gepresst, genäht, mit Entréeband und Garnitur versehen.
Der Strohhut-Boom in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war nicht von Dauer. Die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre liess die Umsätze der Fabriken drastisch sinken, viele mussten schliessen. Von den über hundert Manufakturen, die einst im Aargau Hüte machten, ist nur noch diejenige von Geissmann in Betrieb, heute bekannt unter dem Namen Risa Hutwerkstatt.
Der Firmenname setzt sich zusammen aus den Namen Martin Richner und Joseph Sax. 1942 kauften die beiden Geissmann dessen Fabrik ab und manövrierten sie mit grossem Einfallsreichtum durch die Kriegs- und Nachkriegsjahre.
Um die magere Auftragslage während der 1940er- und 1950er-Jahre zu überbrücken, dörrten sie in den Hut-Trockenschränken Gemüse, modelten eine Teigwarenpresse zu einer Hosenknopf-Maschine um, produzierten Regenbekleidung und statt Hüten für Frauen nur noch Hüte für Männer.
Rückkehr ins Hutmachergeschäft
Zylinder, Bowler, Trilby, Porkpie, Fedora – die Holz- und Alugussformen für die verschiedenen Holzmodelle lagern in der Risa-Hutwerkstatt auf wandhohen Regalen. «Der Grossteil stammt noch aus den Anfängen der Hutwerkstatt», sagt Geschäftsführer Julian Huber.
Seit 2010 steuert er zusammen mit seiner Mutter Gaby Huber die Geschicke der Hutwerkstatt. Der 33-Jährige ist ein Enkel des einstigen Patrons Joseph Sax, gelernt hat er Polymechaniker. Doch kaum hatte er die Lehre abgeschlossen, gefiel ihm der gewählte Beruf bereits nicht mehr.
Er beschloss, während einer Auszeit im Ausland auf neue Gedanken zu kommen. «Zwei Tage vor der Abreise rief mich mein Onkel an, er war Geschäftsführer in der Hutfabrik und bot mir an, nach meiner Rückkehr ins Hutmachergeschäft einzusteigen.»
Huber lernte das Hutmacherhandwerk von einem der Risa-Angestellten und das Strohhutnähen von Kurt Wismer, einem der letzten ausgebildeten Strohhutmacher. Wismer zeigte dem Jungspund etwa in einer zweistündigen Lektion wie aus gschtabigen Weizenstrohhalmen ein genähter Cannotier gemacht wird.
Für die diesjährige Freiämterkollektion wird der Klassiker aus den 1920er-Jahren seriell hergestellt. Mit flachem Deckel und doppelrandiger Krempe mit eingesetztem Filet, wie es sich gehört. Eine recht steife Angelegenheit denkt die Besucherin und nimmt eines der fertigen Modelle in die Hand. Sie ist überrascht, wie elastisch sich die verarbeiteten Weizenstrohhalme anfühlen.
Pro Stunde ein Modell
Aus einer der hinteren Ecken der Werkstatt ist ein leises Surren zu hören. Hier, an einem der hohen, mit Dampf beschlagenen Fenster, sitzt Strohhutmacherin Andrea Geissmann an der Nähmaschine. Auf dem Boden neben ihr steht ein Korb, gefüllt mit fünf bis sechs Millimeter breiten Strohbändern.
Für eine Herrenkopfbedeckung ohne Sonderwünsche braucht Geissmann gut 60 Meter. Diese näht sie Runde um Runde schneckenförmig zu einem Hut samt Krempe zusammen. Mit einem Faden aus Polyester, der reisst nicht. «Läuft's gut, mache ich pro Stunde ein Modell», sagt sie.
9'000 Hüte fertigen Huber und die 24 Angestellten jedes Jahr. 6'000 Wollfilz- und 3'000 Strohhüte. Drei Kollektionen, je eine für Sommer und Winter und die Freiämter-Kollektion.
Die Idee zu letzterer entstand vor sieben Jahren. Damals erfuhr Huber von Tressa, der Fabrik für Hutgeflechte, der letzten in der Schweiz. Er fuhr nach Villmergen, zum Firmensitz, und füllte eine Kiste mit Bändern für die Strohhutproduktion. «Damit kannst du eine ganze Kollektion machen», rief ihm der Seniorchef nach, als er über den Parkplatz zu seinem Auto ging.
Hahnentrittmuster, Karomuster, Tupfenmuster
Zurück in der Fabrik setzte sich Huber ans Pult und entwarf ein Strohhutmodell nach dem anderen. Einfarbig, zweifarbig, mit Hahnentrittmuster, Karomuster, Tupfenmuster, mit schmaler oder ausladender Krempe, inspiriert von traditionellem Handwerk, benannt nach Orten, Weilern, Hügelzügen; «Beinwilerin», «Hasler», «Lindenbergerin».
Zur Stroh- und Wollfilzhutproduktion kamen 2000 mit der Übernahme der Firma Casquette und 2015 mit der Übernahme der Firma Kresa zwei weitere Zweige dazu. Die Fabrikation von Uniformhüten und von Kopfbedeckungen nach historischen Vorlagen.
Geblieben aus der Diversifikation der 1940er-Jahre ist die Fertigung von Regenmänteln. «Ein Modell, den Artikel 56 stellen wir nach wie vor her.» Vier Angestellte machen ihn in Heimarbeit. Damit die Nähte kein Wasser durchlassen, werden sie mit dem Lötkolben verschweisst statt genäht.
«Ich habe einen superschönen Job», sagt Huber, der nebst der Geschäftsführung täglich in der Werkstatt mitanpackt. Allerdings wird die Arbeit zusehends herausfordernder. Wegen des Materials, das er in allen Ecken der Welt ordern muss. Die Strohbänder vor allem in Asien, eine kleine Menge in Florenz. Lediglich das Material für die Kreissägehüte, Cannotiers mit speziellem Geflecht, kommt aus der Schweiz.
Huber bezieht es von Bauern, die sich auf den Anbau von Stroh spezialisiert haben, «wir haben dafür ein kleines Netzwerk aufgebaut». Die Bänder für die Garnituren werden in Italien, in Deutschland und in der Schweiz gewoben. Die Rohlinge für die Panama-Strohhüte kommen aus Ecuador. Damit er gute Qualität bekommt, ist Huber regelmässig via Skype mit dem dortigen Geschäftsleiter in Kontakt – «die Beziehung will gepflegt sein.»
Schwierige Materialbeschaffung
Am schwierigsten ist die Materialbeschaffung für historische Kopfbedeckungen. Die Suche nach dem passenden Wollfilz, den richtigen Knöpfen und Emblemen gerät zuweilen zu einer wahren Recherche. «Die Fabriken, die die entsprechenden Sachen hergestellt haben, wurden geschlossen und die Werkzeuge eingeschmolzen», sagt Huber. Manches findet er im Internet, anderes manchmal in einer Bude, von der er erfährt, bevor sie geschlossen wird.
Dagegen ist der Einkauf von Wollfilzstumpen ein Kinderspiel. Der grösste Teil wird in Portugal fabriziert, ein kleiner Teil in Tschechien. «Die Produktion hat in den letzten Jahren angezogen, weil querbeet immer mehr Menschen Hüte tragen oder Schild- und Schirmmützen», sagt Huber.
«Männer, die in den Achtziger- und Neunzigerjahren wegen ihres Huts belächelt wurden, setzen nun wieder einen auf. Viele Junge, viele Frauen.» Letztere, so stellt er fest, kaufen häufig ein Herrenhutdesign. «Das ist ein cooles Statement.»
100-Jahr-Jubiläum: Die Risa Hutwerkstatt in Hägglingen AG feiert vom 25. bis 27. April mit einem Verkauf ab Fabrik. Freitag und Samstag mit kulinarischem Markt. An allen drei Tagen haben Besucherinnen und Besucher Gelegenheit, den Hutmachern bei ihrem Handwerk zuzuschauen.
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