Massentourismus Tourismus-Experte Stettler: «Viele Einheimische fühlen sich nicht mehr wohl»

Mara Ittig

27.9.2018

Die Schweiz ist bei Asiaten ein beliebtes Reiseziel. Touristinnen fotografieren sich auf dem Jungfraujoch.
Die Schweiz ist bei Asiaten ein beliebtes Reiseziel. Touristinnen fotografieren sich auf dem Jungfraujoch.
Bild: Keystone

Die Touristenmassen nehmen weltweit zu, einzelne Standorte sind damit völlig überfordert. Wie ist die Situation in der Schweiz – und was schafft Abhilfe?

Ein Geist namens Overtourismus geht um – vor allem auch in den Medien. Wie schlimm ist die Situation wirklich? Wir haben uns mit dem Tourismus-Experten Jürg Stettler unterhalten.

Herr Stettler, das Pächterpaar vom Berggasthaus Aescher Wildkirchli wirft den Bettel hin, weil die Infrastruktur den Besuchermassen nicht mehr standhält. Ist der Overtourism in der Schweiz angekommen?

Verzasca war ebenfalls so ein Beispiel. Weniger problematisch ist der Fall der Villa Honegg, weil sich dort die Gästezahl steuern lässt. Heikel sind öffentliche Plätze, bei denen der Zugang nicht beschränkt werden kann.

Ist Overtourism in der Schweiz ein Problem oder taucht das Phänomen eher punktuell auf, wie beim Beispiel Aescher?

Es ist punktuell der Fall, nimmt aber ganz klar zu. Das hat unter anderem auch damit zu tun, dass die Sozialen Medien eine enorme Reichweite haben. Und somit werden Zielgruppen erreicht, die man bis anhin als kleiner Betrieb mit normalen Marketingmitteln gar nicht erreichen konnte.

Das hört sich ja erst einmal nicht nur schlecht an …

Es lässt sich kaum steuern. Geht etwas viral, kann das zu Problemen führen, wenn die Kapazitäten nicht bereitstehen. Es kommt zu einer Veränderung der Besucheranzahl in sehr kurzer Zeit, man ist nicht vorbereitet. Hinzu kommt, dass viele kleine Anbieter oder schöne Flecken der Schweiz schlicht nicht geeignet sind für grössere Menschenmengen.

Man kann also gar nicht mehr steuern, wie viele Besucher kommen?

Nur begrenzt. Etwas, das sich viral verbreitet, kann man nicht stoppen. Man kann allenfalls darauf achten, sein eigenes Angebot so zu gestalten, dass es nicht anfällig ist dafür. Die Besucher lenken zu wollen, wenn sie einmal da sind, ist sehr schwierig. Social-Media-Plattformen haben Reichweiten, die nicht planbar sind. Wenn ich eine Werbeaktion plane, steht ein Angebot dahinter, das damit korrespondiert. Greift der Gast in die Vermarktung ein, wird es unberechenbar.

Gäbe es das Phänomen Overtourismus auch ohne Instagram?

Die Plattform hat sicher einen Einfluss, weil sie eine so grosse Reichweite hat. Hinzu kommt, dass die Tourismusströme heute globalisiert sind. Früher machten Besucher aus der Schweiz und Deutschland rund zwei Drittel der Touristen aus. Man kannte die Gästeströme – und die wiederum waren beschränkt und überschaubar. Mit den globalisierten Märkten, namentlich Asien und dort wiederum vor allem China, gibt es plötzlich viel mehr potenzielle Besucher: Ob ich acht Millionen Schweizer anspreche oder potenziell 1,4 Milliarden Chinesen, das macht einen enormen Unterschied. Auch wenn von den 1.4 Milliarden bisher nur ein kleiner Teil überhaupt ins Ausland reist.

Jürg Stettler: «Wenn sich die Anzahl der Touristen an einem Ort zu schnell ändert, führt das unweigerlich zu Kapazitätsproblemen»
Jürg Stettler: «Wenn sich die Anzahl der Touristen an einem Ort zu schnell ändert, führt das unweigerlich zu Kapazitätsproblemen»
Bild: Keystone

Wie sehen die Prognosen aus?

Die Prognose der UNWTO (internationale Tourismusorganisation) geht davon aus, dass es bis 2030 ungefähr 1,8 Milliarden Ankünfte jährlich geben wird. 2017 waren es 1,3 Milliarden. Das ist ein enormes Wachstum. Und ein grosser Teil davon geht auf den asiatischen Markt zurück.

Tourismus bleibt ein Spannungsfeld: Auf der einen Seite will man zahlungskräftige Besucher, auf der anderen Seite hadert die einheimische Bevölkerung und die Umwelt leidet. Wie kann man das lösen?

Das Phänomen an sich ist nicht neu, das gab es schon in den 70er und 80er Jahren. Während auf der einen Seite Menschen von den Besuchern profitieren, haben andere Teile der Bevölkerung nichts davon. Das führt zu Konflikten. In alpinen Tourismusregionen ist das schon länger bekannt und kommt nun auch in grösseren Städten vor.

Was sind die Hauptprobleme?

Wenn die Zahl der Touristen an einem Ort zu schnell stark zunimmt, führt das in vielen Fällen zu Kapazitätsproblemen, weil die Angebote und Infrastrukturen darauf nicht vorbereitet sind. Einzelreisende sind weniger problematisch als Gruppen, weil sie sich besser verteilen, Gruppen hingegen sind zeitlich und räumlich stark konzentriert.

Berge haben v on Natur aus Zurtittsbegrenzungen - ausser man besteigt sie zu Fuss. Touristen aus Asien stehen an für die Titlis-Bahnen. 
Berge haben v on Natur aus Zurtittsbegrenzungen - ausser man besteigt sie zu Fuss. Touristen aus Asien stehen an für die Titlis-Bahnen. 
Bild: Keystone

Auch der kulturelle Hintergrund spielt eine Rolle. Einheimische Touristen unterscheiden sich kaum von der Bevölkerung. Tauchen aber asiatische Reisende in Gruppen zur gleichen Zeit am gleichen Ort auf, kann das zu Akzeptanzproblemen führen.

Was hilft?

Je mehr Menschen in den Tourismus eingebunden sind und somit auch davon profitieren, umso mehr sind bereit, allfällige Nachteile in Kauf zu nehmen. Vielerorts profitiert aber nur eine Minderheit. Der Tourismus in der Stadt Luzern hat volkswirtschaftlich eine Bedeutung von unter 10 Prozent. Der direkte Wertschöpfungsanteil liegt bei 5 Prozent und der Anteil an der Beschäftigung bei 7 Prozent. Allerdings profitiert die Bevölkerung auch noch indirekt über die gute Infrastruktur und kulturelle Angebote.

Wie kann man die Situation entschärfen?

Viele versuchen, die Besucherströme vor Ort zu lenken. Einzugreifen, wenn die Besucher schon da sind, ist aber zu spät. Öffentlich zugängliche Plätze sind zudem schwer zu regulieren, weil keine Zutrittsbeschränkungen möglich sind und sich Besucher und Einheimische vermischen. Gruppentouristen kann man besser lenken. Die kommen mit einem grossen Schiff oder in einem Car. Individualreisende kommen auf verschiedene Arten, bewegen sich ganz anders und sind daher schwer lenkbar.

Vielerorts profitieren nur Wenige von den Besuchern: Uhrenläden und Souvenirshops gehören dazu.
Vielerorts profitieren nur Wenige von den Besuchern: Uhrenläden und Souvenirshops gehören dazu.
Bild: Keystone

Man muss also früher ansetzen und sich überlegen, vermarkte ich den Eiffelturm in Paris? Oder vermarkte ich den gerade nicht, weil ihn eh schon alle kennen? Bewerbe ich eher Stadtteile und Attraktionen, die weniger bekannt sind, in der Hoffnung, dass der eine oder andere Tourist auch dahingeht? So kann man die Touristenströme besser verteilen. Amsterdam ist ein gutes Beispiel: Man vermarktet einen Stadtteil touristisch als Amsterdam Beach und versucht damit sowie über eine entsprechende Angebotsentwicklung die Besucherströme zu steuern.

Und in der Schweiz?

Das sind auch hier wichtige Überlegungen: Will ich in Luzern einen alternativen Standort bieten, um Uhren zu kaufen und so den Schwanenplatz zu entlasten? Bucherer und Gübelin haben Zusatzstandorte auf dem Jungfraujoch, Pilatus, Titlis eröffnet.

Wieso kommen so viele Besucher aus Asien in die Schweiz?

Die Schweiz ist eine Marke, gilt als sogenannte «most aspirational destination», die man einmal im Leben gesehen haben muss. Viele Chinesen messen Marken, die einen Status geniessen, eine grosse Wichtigkeit bei. Es sich leisten zu können, in die Schweiz zu gehen, ist eine wesentliche Motivation.

In China sind zudem Uhren sehr beliebt als Statussymbol. Und die kaufen sie hier, weil das mehr Status verleiht sowie wegen der hohen Luxussteuer und dem Risiko von Fälschungen in ihrer Heimat.

Die Schweiz ist ausserdem attraktiv, weil es sehr viel auf kleinem Raum gibt. Das ist in der Zentralschweiz noch extremer. Man bekommt die Schweiz im Mikroformat. Wir haben Top-Sehenswürdigkeiten auf kleinem Raum, in Luzern kann man direkt um die Ecke die Uhr kaufen, und man kann drittens ganz in der Nähe auf einen Berg, idealerweise mit Schnee. 

Wieso reisen Asiaten überhaupt so gern in der Gruppe?

Chinesische Reisende sind allgemein gruppenorientierter als wir. Die Sprachproblematik spielt ebenfalls eine grosse Rolle. Die meisten chinesischen Touristen können kein Wort Englisch.

Mittlerweile haben wir Smartphones, die Übersetzungen liefern, lokalisierte Informationen bieten, also wird sich das ändern. Millenials sind so agil mit ihrem mobilen Gerät, dass sie sich durchschlagen können, auch wenn sie kein Englisch beherrschen. 

Ein weiterer Grund ist der Preis. Zehn Tage Europa zu einem so tiefen Preis mit so vielen Attraktionen in so kurzer Zeit kann ich individuell gar nicht organisieren.

Einmal im Leben Schnee sehen: Für viele Menschen in Asien ein Traum, den sie sich in der Schweiz erfüllen können.
Einmal im Leben Schnee sehen: Für viele Menschen in Asien ein Traum, den sie sich in der Schweiz erfüllen können.
Bild: Keystone

Haben die Standorte ein Interesse an Gruppenreisen oder hätte man lieber mehr Individualtourismus?

Die Gruppen sind ein wichtiges Standbein, weil sie es ermöglichen, in kurzer Zeit eine hohe Wertschöpfung zu erzielen in einem beschränkten Raum und somit auch beschränkte negative Auswirkungen haben. Das Gruppengeschäft ist besser lenkbar.

Gleichzeitig setzen Schweiz Tourismus und auch Luzern Tourismus ihre Vermarktungsbemühungen vermehrt auf den Individualtourismus. Einerseits um breiter abgestützt zu sein und andererseits, um die problematischen Aspekte von Gruppenreisen nicht noch zu verstärken. Immer in der Annahme, dass Individualreisende eigentlich vorteilhafter sind, weil sie ihr Geld breiter ausgeben und so mehr Geschäfte von ihnen profitieren.

Wechseln wir kurz die Seite. Wie kann ich mich als Reisende verhalten, wenn mich die Menschenmassen nerven?

Das ist eigentlich ganz einfach: Nicht an Orte reisen, wo alle hinwollen – und wenn doch, dann nicht zur Hauptreisezeit sowie nicht nur die Hauptattraktionen besuchen, sondern auch weniger bekannte Plätze.

Ich war gerade in Venedig, und dort gibt es links und rechts vom Canal Grande zwei Hauptrouten, auf denen sich die meisten Touristen bewegen. Entfernt man sich ein bisschen weiter vom Canal Grande, ist man innerhalb von Minuten an Plätzen mit sehr wenigen Touristen. Noch wichtiger ist der Zeitpunkt. Ich war im August einer Konferenz wegen in Venedig, sonst würde ich nie während der Hochsaison dahin, sondern im Januar oder Februar. Als Tourist habe ich Alternativen. Aber aus Sicht der Bevölkerung sieht es anders aus. Viele Einwohner fühlen sich kaum mehr wohl. Die Lebensqualität geht zurück, die Preise steigen, und viele können es sich nicht mehr leisten, auf der Hauptinsel zu wohnen. Entsprechend ist die Einwohnerzahl stark zurückgegangen.

Jürg Stettler ist Tourismusexperte. Er leitet das Institut für Tourismuswirtschaft an der Hochschule Luzern und beschäftigt sich unter anderem mit der Entwicklung des Tourismus in der Schweiz.
Jürg Stettler ist Tourismusexperte. Er leitet das Institut für Tourismuswirtschaft an der Hochschule Luzern und beschäftigt sich unter anderem mit der Entwicklung des Tourismus in der Schweiz.
Bild: Keystone
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