Gedränge auf dem Ausflug«Keiner will sich in einem obskuren Wäldli präsentieren»
Von Bruno Bötschi
28.2.2021
Das frühlingshafte Wetter treibt die Menschen aktuell zu Zehntausenden ins Freie. Thomas Widmer, der Schweizer Wanderpapst, über überlaufene Ausflugsziele und wie man ihnen ausweichen kann.
Thomas Widmer, Sie sind seit bald 20 Jahren jeden Samstag per pedes unterwegs. Am vergangenen Wochenende war es frühlingshaft warm, auf welcher Route waren Sie unterwegs?
Ich hatte keine Lust auf die vollen Züge Richtung Berge. Daher gingen wir, ich und mein Grüppli, von Baden nach Zürich. Siebeneinhalb Stunden brauchten wir. Die Pausen nicht mitgerechnet und auch nicht den Abstecher über die Limmat nach Dietikon. Dort besorgten wir uns im «Crispy Chicken» bei netten Syrern einen Zmittag. Falafel-Wraps und Schawarma.
Wie viele Menschen trafen Sie unterwegs?
Auf dem Wanderweg war vorerst mässig viel Volk unterwegs. Ein paar Hündeler, ein paar Wanderer, ein paar Velofahrer. In Dietikon um den Bahnhof hatte es durchaus Leute. Krass wurde es in Zürich ab dem Escher-Wyss-Platz. Beim Letten war richtig Gedränge. Mir war nicht wohl dort.
‹Grossandrang und Partystimmung gibt es bereits wieder auf dem beliebten Holzrost beim Flussbad Oberer Letten›, notierte der ‹Tages-Anzeiger›. Warum rennen viele, kaum scheint die Sonne das erste Mal ein bisschen wärmer, an die immer gleichen Orte?
Zur Person: Thomas Widmer
Schweizer Familie/Daniel Ammann
Thomas Widmer ist studierter Islamwissenschaftler und Arabist. Nach einem Intermezzo als IKRK-Kriegsdolmetscher wurde er Journalist. Viele Jahre war er Redaktor beim «Tages-Anzeiger», seit 2017 ist er für die «Schweizer Familie» als Reporter unterwegs. Für den Echtzeit Verlag hat er mehrere Bücher über das Wandern verfasst. Auf «Widmer wandert weiter» bloggt er täglich übers Wandern.
Es ist immer anstrengend, sich etwas Neues auszudenken. Plus sind viele Leute nicht unendlich mobil. Gerade die mit Kindern denken: Bleiben wir doch in der Stadt, das ist easy! In der Stadt sind die Grünflächen aber begrenzt. Man tritt sich schnell mal auf die Füsse. Vielleicht spielt auch der Gedanke mit: Wenn ich an den Letten gehe, treffe ich dort sicher Sasha und Salomé und ihre Kinder. Dann können die zusammenspielen, während wir einen trinken. Wer immer an dieselben zwei, drei Orte geht, weiss, was ihn erwartet. Und Rituale sind bequem und schön.
Sie meinen, wenn schon unter der Woche alles anders und komplizierter ist wegen der Corona-Pandemie, soll wenigstens der Sonntag so wie immer sein.
So ist es. Das Wochenende solls richten, es ist besonders beladen mit Wünschen. Etwas anderes kommt hinzu: Die sozialen Medien normieren die Träume stark. Alle posten Fotos von sich, den Kindern, dem Freundesgrüppli beim Spasshaben in der Sonne. Sonne ist zwingend, auf Facebook und Instagram hagelt es an solchen Tagen Hey-schaut-mal-Leute-wie-viel-Sonne-wir-haben. Es will keiner abseitsstehen und sich selber in einem obskuren, schummrigen Wäldli bei Bülach präsentieren. Der Letten ist eine Marke. Jeder will an ihr teilhaben.
Virus hin und her: Der Mensch braucht Gemeinschaft.
So ist es. Bekanntlich gibt es auch die Leute, die gern an Ostern in den Süden fahren und in den Stau geraten. Sie haben so das Gefühl, Teil von etwas Grösserem zu sein.
Wie kann man ‹stundenlang im Stau stehen› als Teil von etwas Grösserem empfinden?
Hey, sie waren dabei. Sie waren in der «Tagesschau».
Warum sind Sie nicht dabei?
Ab und zu bin ich es auch, meist unfreiwillig. Es macht mir keinen Spass, im Zug nach Davos um einen Sitzplatz zu kämpfen oder für eine Fahrt auf den Männlichen anzustehen. Diesen Winter waren wir vor allem im Unterland unterwegs. Am Neujahrstag gingen wir von Marthalen zum Bibersee und nach Henggart. Das Wetter war herrlich grau, niemand zu sehen. Am Dorfbrunnen von Flaach stiessen wir mit Cava an auf ein gutes 2021.
Was machen Sie persönlich anders als andere Menschen?
Ich überlege, was die anderen machen. Und dann versuche ich, etwas ganz anderes zu machen. Es klappt nicht immer. Aber oft. Wer kann, reist am besten schon am Freitagabend an. Und startet dann ohne Anreisestress zur Wanderung.
Der Mensch ist halt kein Luchs, der diesseits der Paarung allein durch Wald und Wiesen streift, sondern ein Herdentier. Es will mit anderen zur selben Zeit am selben Ort sein, was jedoch wegen der Corona-Pandemie zurzeit etwas problematisch ist.
Fragt sich, wie viele Leute es für eine Herde braucht. Ich finde, ab zwei aufwärts. Wer mit Freundinnen und Freunden loszieht, ist nie allein. Sie sind die Premiumherde.
Haben Sie konkrete Tipps, wie ich in den nächsten Wochen und Monaten den Menschenmassen an beliebten Schweizer Ausflugszielen am besten ausweichen kann?
Gehen Sie am Samstag, wenn viele shoppen, und halten Sie sich am Sonntag still. Wählen Sie Ziele, die anstrengend sind. An den letzten Pfingsten bestiegen wir den Etzelstock, es ging gut 1350 Höhenmeter rauf und wieder runter. So was wollen die meisten nicht.
Warum nicht?
Die sagen bloss: Etzelstock? Wo ist das denn? Und noch das: Betrachten Sie mässiges bis schlechtes Wetter als Freund und Verbündeten.
Etzelstock? Sorry, ich weiss leider auch nicht, wo dieser Gipfel sich erhebt.
Im hinteren Glarnerland. Man startet am besten in Nidfurn oder in Schwanden.
Ich bin sicher, Sie haben noch andere gute Tipps, um Menschenmassen umgehen zu können.
Verbinden Sie zu Fuss zwei Städte, zum Beispiel Winterthur und Zürich oder Bern und Thun. Oder zwei grosse Orte wie Herisau und Appenzell. Sie werden staunen, was Sie im Dazwischen alles sehen. Und wie viel Landschaft Sie für sich haben.
Was auch spannend sein könnte: abseitige Wege. Nur bergen die sehr oft ein gewisses Gefahrenpotenzial.
Ich rate nie zu Wanderungen abseits des offiziellen Wanderwegnetzes. Ziehen Sie auch nicht allein los. Und beachten Sie Wegsperrungen. Von denen gibt es immer mehr. Die Schweiz rutscht und bröckelt mehr als früher.
Wissen Sie schon, wo Sie an diesem Wochenende unterwegs sein werden?
Könnte sein, dass ich passen muss. Aber nicht aus Mangel an Lust. Ich muss grad ein Fussproblemli loswerden.
Gute Besserung. – Oder wollen Sie vielleicht nicht verraten, wo Sie unterwegs sind, weil Sie befürchten, dass dann mehr Menschen als üblich dort unterwegs sein werden?
Stimmt nicht. Wenn ich gehe, dann durch den gemässigten Teil des Zürcher Oberlandes. Wir verknüpfen diverse Hügel und finden dabei sicher auch eine windgeschützte Stelle, wo wir bräteln können. Schauen Sie die Karte an, überlegen Sie, pröbeln Sie. Es ist wie beim Kochen, Eigenkreationen machen am meisten Spass.
Am gebratenen Cervelat liebe ich die ledrige Haut. Und dass das Fett tropft. Und die Kalbsbratwurst liebe ich wegen der feinen Brätfüllung. Wenn sie aussen ein bisschen angekohlt ist, gibt das einen grossartigen Kontrast von zivilisiert und barbarisch. Am liebsten esse ich von jeder eine.
Das Interview mit Thomas Widmer wurde als schriftliches Pingpong geführt.