EssayBiel – eine Stadt macht sich unnötig langweilig
Von Michael Angele
31.7.2020
Biel wirbt mit seiner pittoresken Altstadt um Touristen – die klein und sterbenslangweilig ist. Dabei hätte die Stadt Zeitgemässeres zu bieten, findet ein Bieler. Doch das scheut die Tourismuswerbung wie der Teufel das Weihwasser.
«Von allen Orten, die ich bewohnte, und ich bewohnte deren schöne, machte mich keiner wahrhaft glücklicher und an keinen denke ich mit so zärtlichem Bedauern zurück, wie an die Petersinsel, mitten im Bielersee.»
Ich bin der Stimme des aus Paris geflüchteten Philosophen Jean-Jacques Rousseau gefolgt und machte Ferien auf einem Camping-Platz am Bielersee. Unser Nachbar auf dem Campingplatz war ein junger Tessiner, der allerdings, wie sich bald herausstellte, in Biel arbeitete.
Wir kamen über die Stadt, in der ich das Gymnasium besucht und später gewohnt hatte, ins Gespräch und ich berichtete ihm von einem Artikel der «NZZ am Sonntag», der in meiner Seeländer Verwandtschaft für Aufsehen sorgte. Biel wird in darin als unschweizerische Stadt porträtiert: ärmer, schmutziger, weniger leistungsbezogen als der Rest. «Als ich von Zürich nach Biel zog, fragte mich meine Grossmutter: ‹Ist es da nicht zu gefährlich?›», fängt der Bericht an.
Der Tessiner lachte laut auf, denn auch seine Grossmutter hatte, kein Witz, seinen Umzug nach Biel mit einem «ist es dort nicht gefährlich?» taxiert. Und ich glaubte bis dahin, Tessiner seien quasi schon Italiener, denen man nichts zu erzählen braucht, weil sie die Mafia haben.
Biel hat die Mafia auch. Oder genauer: Die Stadt beherbergte einen Pizzabäcker, der mit Drogen dealte und im Verdacht steht, mit der Mafia verbandelt zu sein. Er wurde Anfang Sommer festgenommen und soll, so las man, nach Italien ausgeschafft werden. Den Artikel steckte ich in meine Mappe mit Artikeln über «Biel und Agglo», in dem sich noch zwei Artikel über den «Hassprediger von Biel», der in Wahrheit ein Hassprediger aus Nidau ist, aus dem Jahr 2017 befinden.
Auf Touristen ist man nicht vorbereitet
Tatsächlich, so der Tessiner weiter, würden nirgends mehr Velos geklaut als in Biel. Vielleicht werden aber auch nirgendwo mehr sichergestellt. Jedenfalls wurde mein Velo, das man anno Tobak geklaut hatte, aus dem Nidau-Büren-Kanal gehoben und, voller Muscheln, an den rechtmässigen Besitzer übergeben.
Es ist diese Mischung aus einer eher lockeren Einstellung zu Leben und Gesetz, malerischer Kulisse und Schweizer Primärtugenden (Uhrenstadt!), die Biel und seine Region – ähnlich dem Tessin – zu einem reizvollen Ziel für Touristen machen könnte. Wenn es denn nur wollte.
Denn man muss einem anderen Bieler Italiener recht geben. Mario Cortesi, der seit ich denken kann, für Biel macht und tut, was er kann (Pressebüro gründen, Partei gründen, Zeitung gründen) und offenbar irgendwie nicht altert, dieser Cortesi also sagt in dem «NZZ am Sonntag»-Artikel: Biel verkauft sich unfassbar unter Wert. Dass Biel die Uhrenwelthauptstadt sei, wisse man gerade mal «in Pieterlen».
Dazu diese Bemerkung: Mein Stiefsohn, 12, interessiert sich wenig für die Besonderheiten einer Stadt, in der er in den Ferien ist, aber er hat einen ausgeprägten Sinn für Statussymbole. Darum geriet er aus dem Häuschen, als er die Rolex-Werbung auf dem alten Gebäude über der Stadt, in den Hängen des Jura, entdeckte. Wir fuhren hin, konnten aber nicht mehr tun, als ihn vor dem Gebäude zu fotografieren. Auf Touristen ist man dort nicht vorbereitet.
Gewiss, es gibt jetzt das supermoderne Omega-Museum samt Swatch-Lindwurm, aber ein Uhrenmuseum im eigentlichen Sinn suchst du vergebens, da musst du nach La Chaux-de-Fonds fahren (das sowieso in seiner abgeschiedenen Abgeranztheit das wahre Biel ist).
Tel Aviv der Schweiz
Vergebens sucht man auch eine öffentliche Würdigung der Neustadt, die man mit ihrem reichen Bauhaus-Erbe getrost als «Tel Aviv der Schweiz» bekannt machen könnte, wenn man nur wollte. In Berlin wissen die interessierten Kreise durchaus, was die Stadt da hat. Aber in Biel selbst scheint das Tourismusmarketing – wie im Rest der Schweiz – grosse Angst vor jeglicher Form von Moderne zu haben und zeigt auf ihren Broschüren stets nur die Altstadt, die reizvoll, aber von überschaubarer Grösse und Schönheit ist.
Biel ist nicht Luzern. Auch wenn es in der offiziellen Vermarktung so tut: «Ein Juwel ist die Altstadt: authentisch, charmant, mit engen Gassen, malerischen Brunnen, ehrwürdigen Zunfthäusern, Theatern, Galerien, kleinen Läden mit Spezialitäten und Raritäten, Restaurants, Cafés und Märkten. Die Altstadt ist mit ihrem heiteren Charakter auch ein beliebtes, lebensfrohes Wohnquartier.»
Wer Biel nur aus der Eigenwerbung kennt, muss glauben, dass die Stadt exakt aus einem See und einer Altstadt besteht, die offenbar direkt an diesen See anschliesst und in der es Hunderte, vielleicht sogar Tausende von pittoresken Altstadtkneipen gibt, in denen tiefenentspannte, originelle Menschen mit viel Zeit hocken, nachdem sie aus ihren Altstadtlofts getreten und in den zahllosen Galerien Kunst, und in den kleinen Läden Spezialitäten aus der Region eingekauft haben.
Das authentische Leben in der Provinz
Nun ist mir die Altstadt bei einem kurzen Besuch in diesem Sommer wie vor dreissig Jahren als komplett verschlafener Ort vorgekommen. Damit man mich nicht falsch versteht: Ich finde das Bieler Hängertum gut. Nur sollte die Tourismuswerbung bei der bitteren Wahrheit bleiben, denn selbst die liesse sich verkaufen. Ich denke da an das internationale Hipstertum, das von Prag bis Berlin längst so ziemlich alles infiziert und ruiniert hat, und nun auf der Suche nach «authentischem Leben» tief in die Provinz gehen muss.
Die Frucht vor diesem modernen Vampirismus, der die erste Stufe der Gentrifizierung ist, spriesst auch in Biel. So soll zwischen Nidau und Biel ein neues cooles Quartier entstehen, das «Agglolac». Ich bin allerdings zuversichtlich, dass sich die Zerstörung durch Fortschritt in einer Stadt, die, seit ich denken kann, nicht einmal ihren Durchgangsverkehr geregelt kriegt (Stichwort: A5-Westast), im Rahmen halten wird.
Bis dahin gilt: Steh endlich zu deiner Andersschönheit, Biel, mach was daraus. Es wird genügend Menschen geben, die genau das schätzen werden. Übrigens erkannte schon Rousseau das Elend des lokalen Tourismus. Zwar gab es für ihn nichts Beglückenderes als die Petersinsel. Aber: «Diese kleine Insel ist selbst in der Schweiz kaum bekannt.»
Zum Autor: Der Berner Michael Angele liefert regelmässig eine Aussenansicht aus Berlin – Schweizerisches und Deutsches betreffend. Angele schreibt für die Wochenzeitung «Der Freitag». Er ist im Seeland aufgewachsen und lebt seit vielen Jahren in Deutschlands Hauptstadt. Berndeutsch kann er aber immer noch perfekt. Als Buchautor erschienen von ihm zuletzt «Der letzte Zeitungsleser» und «Schirrmacher. Ein Porträt».