Trendland Serbien Belgrad – die Arm-aber-sexy-Stadt

Laura Lewandowski, dpa

12.7.2019

Belgrad passt in kein Genre. Zwischen Balkan-Nostalgie und Aufbruch drehen Kreative in der serbischen Hauptstadt ihren ganz eigenen Film. Popcorn und Soundtrack inklusive.

Was einem am Flughafen von Belgrad zuerst auffällt, ist der Geruch. Stickig, muffig. Wo kommt das her? Aus den Toilettenkabinen. Da stehen Frauen auf Pfennigabsätzen und mit viel Lippenstift und qualmen.

An anderen Flughäfen bekommen Reisende grüne Smoothies und vegane Snacks. In Serbiens Hauptstadt schlägt einem erst einmal Zigarettenrauch entgegen.

Ist das die Metropole, die im Internet häufig als Geheimtipp gefeiert wird? Belgrad soll jetzt cool sein. Wild und billig wie Berlin nach der Wende, ein Insider-Tipp auf dem Balkan. Also schnell hin und sich ein eigenes Bild machen – oder am besten gleich einen ganzen Film.

Wer noch nie im früheren Jugoslawien war, kann die Reise nach Belgrad mit einem Kinobesuch vergleichen. Dabei geht es weniger um die Frage, was auf der Leinwand läuft, sondern was man sehen will. Von Dolce Vita im Balkan-Style bis zum serbischen Historiendrama ist vieles möglich. Popcorn inklusive. Dazu später mehr.

Belgrad ähnelt einer Filmkulisse

Erst einmal ist da Tristesse. Vor dem Flughafen wartet das Taxi. Die Fahrt ins Zentrum fühlt sich an wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Sie führt vorbei an gigantischen Betonkonstruktionen und schier endlosen Plattenbauten.

Kalt wirken sie – Glanzstücke des Brutalismus, einem Architekturstil aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dazu zählt der Genex-Turm, das «Westtor von Belgrad». Es beschleicht einen das Gefühl, dass die Zeiten hier früher hart gewesen sein müssen.

Häufig wurde Belgrad zerstört und wieder aufgebaut. Übrig blieb ein Mix aus allem, was in den vergangenen Jahrhunderten gebaut wurde: Prachtwerke im neoklassizistischen Stil, Jugendstilvillen, Überreste des osmanischen Reichs. Belgrad ähnelt einer Filmkulisse.

Beach-Feeling in Stadt

Dazu passt, dass es an jeder Ecke Popcorn gibt. Alle paar Hundert Meter stehen kleine Buden, die vom Jahrmarkt stammen könnten. Auch die ausrangierten Klimaanlagen an den Hauswänden, die kreuz und quer hängenden Stromkabel und die bröckelnden Fassaden sind auf seltsame Art pittoresk. Als ob die Handwerker irgendwann keine Lust mehr hatten. Oder kein Geld. Das ist wahrscheinlicher. Wenn Berlin arm aber sexy ist, stellt sich die Frage, was Belgrad ist.

Spätestens an dieser Stelle ist es Zeit, über Ada zu reden, die künstliche Halbinsel, deren vollständige Bezeichnung Ada Ciganlija lautet. Einheimische empfehlen diesen Ort auf die Frage, wo der Eindruck vom Belgrader Leben möglichst authentisch sei.

Hier kannst Du am Strand sitzen und ein Glas Wein trinken, so lautete ein Tipp. Beach-Feeling in Serbien. Alkohol ist hier mindestens so im Trend wie Rauchen. Etwa zehn Minuten sind es mit dem Taxi vom Stadtzentrum zur Halbinsel. Ein Rundweg um den See führt an zahlreichen Buden und Restaurants vorbei. Wenn es einen Dresscode gibt, dann ist es dieser: Jogginghose und Turnschuhe.

«Im Sommer wird es richtig heiss, locker 35 Grad», sagt Radovan Pesic. Gemeinsam mit seinem Bruder betreibt er das «Tropical Heat», benannt nach der US-Krimiserie aus den Neunzigern. «Damals in Serbien der Hit schlechthin», sagt Pesic und schmeisst die Popcorn-Maschine an. Das Gefühl, tatsächlich in einem Neunziger-Film stecken geblieben zu sein, wird wieder stärker. Da muss etwas dran sein.

Belgrad soll zurück auf die Weltkarte

«Wenn ich ehrlich bin, viel hat sich nicht verändert», sagt Pesic. Seit mehr als 20 Jahren ist er schon auf Ada, zwischendrin war er sechs Jahre weg. Russland, Südafrika, Zypern. Irgendwann habe es ihn wieder zurückgezogen, sagt er. So wie viele andere auch, die nach dem Krieg das Weite suchten. «Belgrad hat eine seltsame Anziehungskraft.»

«Immer mehr Menschen wollen die Stadt zurück auf die Weltkarte bringen», sagt Luka Lazukic und zieht an seiner Zigarette. Seine Stimme ist rauchig, die Haare sind nach hinten gegelt. Seine Müdigkeit versteckt der IT-Unternehmer hinter einer XXL-Sonnenbrille.

«In die Szene kommst du nicht einfach so rein. Aber wenn du einmal drin bist, entdeckst du ein anderes Belgrad unter der Oberfläche», sagt Lazukic im Szene-Restaurant 5A Soba. Viele hätten die Stadt nach dem Krieg verlassen, um ihr Geld in New York und anderen Metropolen zu verdienen. «Jetzt bringen sie die Trends zurück.» Unter die einheimischen Unternehmer mischen sich Geschäftstüchtige aus den umliegenden Staaten wie Bosnien und Montenegro, die Belgrad zum kreativen Schmelztiegel des Balkans machen.

Wer Geld hat, ist in Belgrad König. Doch jene, die keines haben, kommen auch. Internationaler Flughafen, bezahlbare Mieten und Inspiration an jeder Hauswand: Die Balkan-Metropole zieht gerade wegen ihrer Kontraste Kreative aus aller Welt an. Der älteste Stadtteil Dorcol sei vergleichbar mit Williamsburg in New York, sagt Lazukic. «Früher war es die gefährlichsten Ecke, jetzt ist es cool.»

New York, Berlin und Belgrad

Wer einmal weiss, dass es coole Plätze in Belgrad gibt, sieht sie plötzlich überall: Concept-Stores, Vintage-Läden, Co-Working-Spaces. Im Beogradski Market sitzen junge Digitalarbeiter mit aufgeklappten Laptops. In der 1000 Quadratmeter grossen Industriehalle finden sich Designer-Läden, Floristen, eine Craft-Bier-Destillerie und vegane Imbisse. Von Tristesse keine Spur. Läuft hier ein anderer Film?

In einem Land, in dem auf der politischen Bühne oft ein absurdes Theater aufgeführt wird, fangen viele Zuschauer an, ihre eigenen Stücke zu schreiben. «Die Politik benimmt sich so, als ob die Menschen dumm wären», sagt die Sängerin Maja Louis. Ihr Vater «Louis» war bis zu seinem Tod ein gefeierter Musiker auf dem Balkan. Inzwischen ist auch Maja Louis ein bekannter Name in der Szene. Was die Künstlerwelt betrifft, sei die serbische Hauptstadt vergleichbar mit Berlin, sagt sie.

Ist dies nun also der Ort, den Reisende im Internet als Geheimtipp Europas feiern? In gewisser Weise ja. Doch Belgrad muss niemand feiern. Die Stadt feiert sich selbst. «24 Stunden, von Montag bis Sonntag», sagt Louis. Vielleicht ist Belgrad doch kein Melodram, sondern ein Liebesfilm. Aber eben auf den zweiten Blick.

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