Todkranke Eltern (Teil 2 von 3) «Wir vergessen schnell, wie sich jemand angehört hat»

Von Sulamith Ehrensperger

2.6.2021

Wenn der Tod zu früh kommt: Hörschatz hilft früh verwaisten Kindern, die Stimme ihrer Eltern nicht zu vergessen.
Wenn der Tod zu früh kommt: Hörschatz hilft früh verwaisten Kindern, die Stimme ihrer Eltern nicht zu vergessen.
Bild: Getty Images

Wenn Eltern früh sterben, müssen sie ihr Kind im Leben zurücklassen. Damit Mamis oder Papis Stimme nicht verstummt, kreiert «Hörschatz» ihre Lebensgeschichte als Hörbuch. Kapitel um Kapitel entsteht eine Geschichte für das eigene Kind.

Von Sulamith Ehrensperger

Beim Thema Tod verschlägt es vielen die Sprache. Für manche ist es eine Gratwanderung, die richtigen Worte zu finden, manche verstummen gar. «Hörschatz» zeigt das Gegenteil: dass die Stimme auch über den Tod hinaus bleibt. Und dass es noch ganz viel zu sagen gibt, wenn das Ende naht.

Franziska von Grünigen und Gabriela Meissner gestalten mit sterbenskranken jungen Eltern ihre Lebensgeschichte als Hörbuch für die zurückbleibende Familie.

Franziska von Grünigen: «Auch ich habe mich sehr lange ohnmächtig gefühlt, wenn ich mit dem Tod konfrontiert wurde. Heute weiss ich, dass es so wichtig ist, darüber zu reden. Es gibt nichts Schlimmeres, als nichts zu sagen. Deshalb möchte ich mit Hörschatz dazu beitragen, dass Worte gefunden werden.»

Wir Erwachsenen haben den Reflex, sobald das Thema Tod und Sterben angesprochen wird, wir Kinder regelrecht ausgrenzen, um sie zu schützen. Warum sind wir Eltern derart hilflos, wenn es um den Tod geht?

Gabriela Meissner: «Viele Menschen meiden Gespräche über den Tod, weil sie das Gefühl haben, wenn sie darüber reden, beschwören sie ihn geradezu herauf. Kinder zurücklassen zu müssen und sie beim Aufwachsen nicht mehr begleiten zu können, ist für Eltern sicher eine der schlimmsten Vorstellungen.»

von Grünigen: «Ich beobachte, dass Familientrauerbegleitung immer mehr ein Thema wird. Mit Kindern über den Tod reden oder sie darauf vorbereiten, wenn jemand aus der Familie sterben muss, ist wichtig, damit  sie einen Verlust möglichst gut verarbeiten können.»

Über den Verein Hörschatz
Franziska von Grünigen bei Hörschatz-Aufnahmen
zVg

In eigenen Worten erzählen unheilbar erkrankte Menschen ihren Familien, was ihnen wichtig ist, was von ihnen bleiben soll. Mit dieser sehr persönlichen Audiobiografie, einem Hörschatz, hinterlassen früh verstorbene Eltern ihren minderjährigen Kindern eine bleibende Erinnerung. Der Verein Hörschatz vermittelt Audiobiografien an betroffene Familien und organisiert die Finanzierung durch Spendengelder und Fundraising.

Es war im Sommer 2019, als ein Dok-Film dem Projekt «Hörschatz» Leben eingehaucht hat. Der Film porträtiert das deutsche Projekt «Familienhörbuch» von Radiojournalistin Judith Grümmer. Sie bietet schwerstkranken jungen Eltern kostenlose Audiobiografien an, die diese ihren minderjährigen Kindern hinterlassen können. Ein Erlebnis, das von Grünigen und Meissner berührt und elektrisiert – beide denken: «Das braucht es in der Schweiz auch». Von Grünigen schreibt Grümmer an und kann sich bei ihr in Deutschland weiterbilden. Gleichzeitig entdeckt sie Meissners Post zum Film auf Social Media. Daraufhin schreibt sie Meissner an, und die beiden Frauen beschliessen, das Angebot gemeinsam in der Schweiz aufzubauen. Damit ist «Hörschatz»  ins Leben gerufen.



In unserer digitalen Welt dominieren Bilder. Wie kann die Stimme über den Tod hinwegtragen?

Meissner: «Bilder sind sicher wichtig. Aber wenn ein Vater oder eine Mutter schwer krank und von der Krankheit gezeichnet ist,  ist auf Fotos und Videos dann für immer dieses Bild festgebrannt. Das war aber nur ein kleiner Teil des Lebens. Höre ich hingegen einzig die Stimme, kann ich meine eigenen Bilder und Erinnerungen projizieren. Ich war bereits erwachsen, als ich meinen Vater verloren habe, dennoch vermisse ich seine Stimme. Er war Liedermacher und ich habe eine Aufnahme von ihm, die ich wie meinen Augapfel hüte.»

von Grünigen: «Die Stimme ist für mich alles: Kino im Kopf, sie transportiert so viele Nuancen und sie lügt nicht. Wie nah und intim die Stimme sein kann, erleben Eltern auch, wenn sie ihren Kindern Geschichten erzählen. Die Stimmen unserer Eltern hören wir schon vor der Geburt. Aber wir vergessen auch schnell wieder, wie sich jemand angehört hat.»

Franziska von Grünigen ist Radiojournalistin, Audiobiografin, Fragerin, Zuhörerin und ebenfalls Co-Gründerin von Hörschatz. «Wenn Menschen erzählen, bin ich in meinem Element», sagt sie über sich.
Franziska von Grünigen ist Radiojournalistin, Audiobiografin, Fragerin, Zuhörerin und ebenfalls Co-Gründerin von Hörschatz. «Wenn Menschen erzählen, bin ich in meinem Element», sagt sie über sich.
Bild: Christian Schaad

Sie erleben die Menschen hautnah und wahrscheinlich so authentisch, wie sie sich sonst selten geben. Wie gehen Sie mit diesen Schicksalen um?

von Grünigen: «Ich tauche extrem ein in diese Leben. Die Kunst sehe ich darin, auch wieder loslassen zu können, mich aus diesem Leben zu verabschieden. Ich bin da noch am Erfahrungen sammeln. Es ist aber schon so, dass ich mit den Familien mitfiebere, beispielsweise wenn ich eine SMS schreibe und ich merke, dass die Nachricht nicht gelesen wurde, dann mache ich mir Sorgen.»

Meissner: «Es wäre seltsam, wenn uns dieses Mitfühlen mit den Familien nicht berühren würde. Vor kurzem hatte sich eine krebskranke Frau gemeldet, die einen Hörschatz aufzeichnen wollte. Sie zögerte lange, und als sie bereit war, starb sie einen Tag bevor wir die Aufnahmetermine fixieren wollten. Das hat mich sehr getroffen. Wir dürfen aber nicht mitleiden, sondern müssen uns im richtigen Moment aus der Situation herausnehmen können.»

Der Erste, den Hörschatz begleitet hat, ist Thomas, Vater von drei Mädchen im Alter von damals sechs bis zehn Jahren. Er hat einen unheilbaren Hirntumor. Franziska von Grünigen rechnet mit allem, als sie ihn im März letztes Jahr zu Hause für die Aufnahmen besucht. Thomas setzt unglaubliche Energien frei: Er erzählt drei Stunden lang, ist geistreich, witzig und zeigt seine Showman-Seite. Noch haben seine Töchter den Hörschatz nicht zu hören bekommen, denn Thomas lebt.

Wanda hat Magenkrebs im Endstadium, als sie sich als Zweite bei Hörschatz meldet. Sie weiss nicht, wie lange ihr noch bleibt. Ihre beiden Kinder sind damals zehn und zwölf Jahre alt. Sie hat sich schon mit ihrem Tod auseinandergesetzt und wirkt bei ihren Aufnahmen sehr reflektiert. Drei Tage lang erzählt sie von ihrem Leben. Die Augen oft geschlossen, folgt sie ihrer inneren Stimme. Entstanden ist ein Hörschatz mit 86 Kapiteln. Seit ihrem Tod im Dezember hören ihre Kinder immer wieder in das Hörbuch ihrer Mutter rein.



von Grünigen: «Mit dem Hörschatz wollen wir auch das Leben feiern. Wir lachen, staunen und weinen zusammen, und schauen gemeinsam auf schöne und schwierige Lebensmomente zurück. Wir thematisieren zwar die schwierigen Momente in einem Leben, aber ein Hörschatz ist positiv und lebensbejahend.»

Meissner: «In der Palliative Care weiss man, wie wichtig Biografiearbeit zum Lebensende ist, nicht nur, aber gerade dann, wenn ein Mensch so jung sterben muss. Der Hörschatz hilft, das Leben zu würdigen und zu sehen, wie viel man erlebt hat. Mit diesem akustischen Nachlass kann man seiner Familie etwas hinterlassen, das sie durch die Zeit der Trauer und darüber hinaus begleitet.»

Gabriela Meissner ist Co-Gründerin und Präsidentin von «Hörschatz» sowie Kommunikationsbeauftragte des Vereins «palliative zh+sh», der palliative-care-spezifische Anliegen vertritt.
Gabriela Meissner ist Co-Gründerin und Präsidentin von «Hörschatz» sowie Kommunikationsbeauftragte des Vereins «palliative zh+sh», der palliative-care-spezifische Anliegen vertritt.
Bild: Verein Hörschatz

Fällt es Menschen leicht, von sich und ihrem Leben zu erzählen? Und welche Rolle haben Sie bei den Aufnahmen?

von Grünigen: «Ich verstehe mich als Expeditionsleiterin. Ich begleite diese Reise, gebe ihr einen Rahmen. Wenn es nötig ist, nehme ich an der Hand, lasse aber auch vorauslaufen und Hürden erklimmen, wenn mein Gegenüber ausprobieren möchte. Manchmal stelle ich Zwischenfragen, um auf andere Pfade zu führen. Die meisten wissen, wo sie hinwollen und erzählen entlang der eigenen Biografie. Auf diese Weise entstehen Reflexionen über Themen, die wichtig sind.»

Vor kurzem ist der Hörschatz für Remo fertig geworden. Remo ist 35 Jahre alt, ist Vater von zwei Kinder im Alter von 4 und 6, und hat Magenkrebs mit Ablegern. Er meldet sich bei Hörschatz, als es ihm nicht gutgeht. Er öffnet sich während der Aufnahmen und lässt Gefühle zu, derer er sich bisher nicht so bewusst war. Seinen Nachklang möchte er nun möglichst bald zusammen mit seinen Kindern und seiner Frau hören.

Um Eltern in dieser Ausnahmesituation kostenlose Hörschätze zu ermöglichen, sind von Grünigen und Meissner auf Spendengelder und Fundraising angewiesen. Je nach Länge und Aufwand des Hörschatzes rechnen die beiden mit drei Tage Aufnahmen, etwa 80 Stunden Arbeitsstunden und Kosten zwischen 1200 und 9200 Franken. Wichtig ist den beiden, dass es professionell und liebevoll produziert ist, schliesslich ist es ein Hörbuch, das die Kinder über sehr lange Zeit begleiten soll.



Was bewegt die Menschen in den letzten Wochen ihres Lebens?

von Grünigen: «Es sind meistens nicht berufliche Erfolge, grosse Reisen oder Luxus. Vielmehr bewegen die kleinen Dinge des Lebens, wie Familienrituale oder kleine schöne Momente miteinander. Der Fokus liegt klar auf der noch gemeinsam verbleibenden Zeit.»

Meissner: «Für Kinder sind kleine, intime Erinnerungen wichtig, die sie stärken und ihnen ihre Wurzeln bewusst machen. Wenn du das Mami nicht mehr fragen kannst, was du als Kind besonders gern mochtest oder wie deine Geburt war, gibt der Hörschatz vielleicht eine Antwort darauf.»

Was nehmt ihr aus diesen Begegnungen für euer Leben mit?

von Grünigen: «Für mich relativiert es viele Alltagsluxusprobleme, etwa wenn ich mich nerve, weil meine Kinder beim Anziehen trödeln. Ich weiss, dass es Menschen gibt, die nichts lieber würden, als noch jahrelang erleben zu können, wie ihre Kinder trödeln, wenn sie zur Schule sollten.»

Meissner: «Ich empfinde eine Dankbarkeit für jeden Tag, den ich sorglos verbringen kann. Meine Kinder sind schon erwachsen, und ich habe mir in grossen Buchstaben notiert: gute gemeinsame Erinnerungen schaffen und diese lebendig halten, solange wir können.»

Im ersten Teil der blue News-Serie hat Remo über seinen Hörschatz und den Abschied von seinen beiden Kindern erzählt. «Meine Stimme soll für immer bei meinen Kindern sein» ist am 25. Mai 2021 erschienen.

Du möchtest das Projekt Hörschatz unterstützen? Neben einer Direktspende gibt es die Möglichkeit per Crowdfunding zu spenden. Damit können schwerstkranke Eltern für ihre Kinder kostenlos einen Hörschatz aufnehmen.