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Kostbares Gut Wasserschloss Schweiz – alles im Fluss
Von Max Hugelshofer und Isabel Plana
14.7.2019
Die Alpen sind das Wasserschloss Europas. Fast alle grossen Flüsse entspringen hier. Aber auch schon auf den ersten Kilometern ist das Wasser unverzichtbar, wie vier von der Schweizer Berghilfe unterstützte Projekte zeigen.
3025 Meter über Meer, eine Felsplatte im Gotthardmassiv, in der Nähe des Witenwasserenstocks. Hier beginnt alles. Wenn es hier oben regnet, dann bläst auch meist ein rauer Wind. Kommt dieser aus Süden, tropft das Regenwasser am nördlichen Ende der Felsplatte hinunter, fliesst irgendwann in die Reuss und von dort aus via Aare und Rhein in die Nordsee. Bläst der Wind von Norden, fliesst das Wasser ins Bedrettotal und von dort aus via Ticino und Po in die Adria. Ostwind hingegen treibt die Niederschläge via Rhonegletscher und Rhone ins Mittelmeer.
«Dreifache kontinentale Wasserscheide» heisst das im Fachjargon. Auf der ganzen Welt gibt es nur eine Handvoll davon. Und diejenige im Gotthardmassiv war bis vor einigen Jahren kaum jemandem bekannt. «Als ich davon gehört habe, konnte ich es kaum glauben», sagt Paul Dubacher. «Da haben wir eine Weltattraktion quasi vor unserer Haustür und keiner weiss etwas davon.»
Dubacher beschloss, dies zu ändern. Er ist der richtige Mann dafür, schliesslich hat er bereits den Vier-Quellen-Weg realisiert, der auf insgesamt 85 Kilometern Länge die Quellen der Flüsse Rhein, Reuss, Ticino und Rhone verbindet. Die Erweiterung zur dreifachen kontinentalen Wasserscheide wäre da quasi das Tüpfchen auf dem i.
Realisation eines Wanderwegs
Doch die Realisation eines Wanderwegs im hochalpinen Gebiet ist kein Zuckerschlecken. Von der nahegelegenen Rotondohütte aus führt der Weg eine gewaltige Geröllhalde hoch. «Als ich die zum ersten Mal sah, musste ich leer schlucken», erinnert sich Dubacher. Denn Geröll kann rutschen. Und um den Weg sicher zu machen, muss aus grossen Steinen eine Art Fundament gelegt werden. Mit einfachsten Hilfsmitteln, denn Maschinen bringt man mit halbwegs vernünftigem Aufwand hier nicht rauf. Vier Sommer lang waren Dubachers Männer, oft unterstützt von Zivilschutzeinheiten, an der Arbeit. Jetzt ist der Weg fertig.
Es ist natürlich kein Spazierweg geworden, gute Ausrüstung und etwas Kondition sollte man schon mitbringen. Aber für einen teilweise weiss-blau-weiss markierten Alpinwanderweg ist er sehr gut ausgebaut. Der 73-jährige Paul Dubacher nimmt ihn immer noch regelmässig unter die Füsse. Gut zwei Stunden dauert der Aufstieg von der Rotondohütte aus, dann ist sie endlich erreicht, die legendäre Felsplatte.
Dubacher kennt in der Gegend jeden Gipfel, jeden Pass und alle Wege, die dorthin führen. Zum touristischen Hotspot wird keiner davon werden, auch nicht, wenn eines Tages jedes Kind die Wasserscheide kennen sollte. Dafür ist der Aufstieg viel zu aufwändig und anstrengend. Dennoch, erste positive Folgen zeigen die neuen Wanderwege bereits: Die Übernachtungszahlen in der Rotondohütte waren noch nie so gut wie im vergangenen Sommer. Das liege sicher auch am guten Wetter, meint Hüttenwartin Pia Biondi. Aber es sei auffallend, dass immer mehr Alpinisten extra wegen der dreifachen kontinentalen Wasserscheide ins Gotthardmassiv kämen. «Für uns ist das ein Segen.»
Oben bei der Felsplatte zeigt Paul Dubacher mit Hilfe eines mühsam heraufgeschleppten Wasserkanisters, wie das Wasser in drei verschiedene Richtungen abfliessen kann. Kurz kann man seinen Lauf nachverfolgen, dann verschwindet es zwischen den Felsen. Aber eins ist sicher: Es tritt weiter unten wieder an die Oberfläche. Je nach Wind in ganz unterschiedliche Richtungen.
Die Viamala bringt Strom und Touristen
Das Wasser des Hinterrheins stammt zwar nicht von der kontinentalen Wasserscheide beim Witenwasserenstock. Aber das macht diesen Fluss, der oberhalb von Nufenen an der Grenze zwischen dem Tessin und Graubünden entspringt, nicht weniger beeindruckend. Dank ihm ist zwischen Zillis und Thusis die berühmte Viamalaschlucht entstanden.
Den Anfang machte das Gletschereis, das ein immer tieferes Bett in den Untergrund schliff. Seit dem Ende der letzten Eiszeit vor 10'000 Jahren ist es aber der Hinterrhein, der sich unentwegt seinen Weg durch den Fels gebahnt hat und dabei eine fast 300 Meter tiefe Schlucht entstehen liess. Diesen Erosionsprozess veranschaulichen die 359 Treppenstufen, die in die Schlucht hinunterführen. «Jede Stufe entspricht 80 Jahren in der Entstehungsgeschichte der Schlucht», weiss Thomas Rüegg, Präsident der Genossenschaft Viamala, die sich um den touristischen Betrieb in der Schlucht kümmert.
Ursprünglich waren es die Säumer, die zu Zeiten der Römer mit ihren Lastentieren den wörtlich «schlechten Weg» durch die Schlucht auf sich nahmen, um Güter über die Alpen zu transportieren. Mit der Erschliessung des Gotthardpasses im 13. Jahrhundert nahm die Bedeutung der Viamala als Verkehrsachse zusehends ab. Dafür entdeckte man später ihr touristisches Potenzial.
1903 wurde die Schlucht mit den Treppen, die man noch heute hinabsteigt, und einem Besucherpavillon erschlossen. Dieser wurde später durch einen einfachen Kiosk ersetzt. «Um die Viamalaschlucht wieder attraktiver zu machen, liess unsere Genossenschaft 2014 ein modernes Besucherzentrum mit einem kleinen Bistro und einer Terrasse bauen», erzählt Rüegg. Doch damit allein war es nicht getan. Eine alte Holzbrücke auf dem Abstieg in die Schlucht musste dringend ersetzt werden.
An ihrer Stelle steht heute eine Fussgängerbrücke, die mit Unterstützung der Berghilfe realisiert wurde. «Wir haben uns für eine Zwillingsbrücke entschieden, weil sich die Besucherströme über die zwei getrennten Stege besser leiten lassen und es so weniger zu Staus kommt», sagt Rüegg. Eine sinnvolle Investition, denn an Spitzentagen sind es schon mal 4'000 Gäste. Insgesamt zieht es von April bis November rund 60'000 Besucherinnen und Besucher in die Viamalaschlucht.
«Viele von ihnen nutzen weitere Angebote in der Region, seien es Hotels, Restaurants oder den Campingplatz am oberen Ende der Schlucht», weiss Rüegg. Für die 24 Gemeinden, die im Einzugsgebiet des Hinterrheins liegen, ist der Fluss aber nicht nur touristisch von grosser Bedeutung, sondern auch wirtschaftlich. Die Wasserkraftwerke entlang seines Laufs und seiner Zuflüsse produzieren durchschnittlich um die 1500 Gigawattstunden Strom pro Jahr – fast so viel, wie etwa 8 Prozent der Schweizer Haushalte verbrauchen.
Kleines Kraftwerk, grosse Wirkung
Wasserkraft kann aus riesigen Stauseen kommen, muss aber nicht. Im Klein Melchtal ob Lungern im Kanton Obwalden zum Beispiel versorgt ein Kleinwasserkraftwerk schon seit mehreren Jahrzehnten die Alpen des Tals mit Strom zum Käsen, für Licht, für den Kühlschrank. Ohne Strom hätte die Alpwirtschaft in dem abgelegenen Tal keine Zukunft. Umso schlimmer war es für die Älpler, als ihr Kraftwerk plötzlich immer weniger Strom produzierte.
Ein Spezialist stellte fest: Das Schaufelrad in der Turbine war von den kleinen Sandkörnchen, die sich im Wasser befinden, im Laufe der Jahrzehnte abgewetzt worden und hatte an Wirkungskraft eingebüsst. Vergangenen Frühling konnten die Älpler nun mit Unterstützung der Schweizer Berghilfe eine neue Turbine anschaffen. Jetzt reicht die produzierte Strommenge wieder für alle Älplerfamilien. Und die Zukunft der Alpen im Klein Melchtal sind dank des Wassers gesichert.
Bewässerung der Kulturlandschaft
Etwas weiter südlich ist vor allem die Landwirtschaft auf das Wasser angewiesen. Bereits seit Jahrhunderten ist Wasser aus Bächen und Flüssen unverzichtbar für die Bewässerung der Kulturlandschaft. Ganz besonders in trockenen Gebieten. Das Wallis gehört da klar dazu. Im Mattertal bei Grächen zum Beispiel fallen pro Monat im Schnitt lediglich 50 Millimeter Regen. Das reicht bei Weitem nicht, um die Wiesen grün zu halten und Futter für Kühe, Schafe und Geissen zu produzieren.
Abhilfe schafften Suonen: Wasserkanäle, die das Wasser von Bächen oder Gletschern aus quer über die Hänge transportieren. Hier in Grächen nennt man sie Wasserleiten. Kurt Ruppen verbindet nicht nur gute Erinnerungen damit: «Als Kind musste ich im Sommer fast jeden Tag den Wasserleiten nach. Für Unterhaltsarbeiten und um Wiesen zu bewässern.» Das ist ihm mit den Jahren so verleidet, dass er Grächen schon fast fluchtartig verliess, sobald er erwachsen war. Mit Wasserleiten wollte er nie mehr etwas zu tun haben.
Es kam anders. Heute ist Kurt Ruppen Wasservogt und setzt sich im Verein «Suonen von Grächen» für den Erhalt und die weitere Nutzung der Wasserleiten ein. Diese waren in einem schlechten Zustand, als der Verein vor gut zehn Jahren gegründet wurde. Mit Unterstützung der Schweizer Berghilfe und viel Freiwilligenarbeit konnten aber alle Grächener Suonen wieder offengelegt und repariert werden.
Wie in seiner Kindheit ist Ruppen heute der Suone entlang unterwegs. Mit dabei hat er wie damals eine Blechplatte mit Griff (Wässerplatta) und eine langstielige Hacke (Wässerhouwa). Diese Utensilien gehören fest dazu, wenn man mit Hilfe einer Suone Wiesen bewässern will. An der gewünschten Stelle angekommen, stellt er sich breitbeinig vor den Wasserlauf, hebt die Wässerplatta über seinen Kopf und lässt sie schwungvoll in die Suone herunterkrachen.
Beim ersten Versuch schon steckt sie fest im weichen, bewachsenen Rand der Leitung. Sofort staut sich das Wasser. Mit der Wässerhouwa schlägt er einen kleinen Kanal (Schrapfa) in die talseitige Befestigung (Tretschbord). Die so herausgelöste Grasnarbe (Wäschi) legt er der Länge nach an die Schrapfa, und schon überschwemmt das Wasser den Weg, welcher der Wasserleite entlangführt und gluckert von dort aus in die darunterliegende Wiese. Dort zieht Kurt Ruppen mit der Wässerhouwa weitere kleine Kanäle, um das Wasser auf der ganzen Breite der Wiese zu verteilen. Wenn die Wiese genug bewässert worden ist, entfernt er die Wässerplatta wieder, verschliesst alle Schrapfa und geht der Wasserleite entlang weiter. Bis zur nächsten Wiese. Und zur nächsten. «So ging das früher den ganzen Tag», erklärt er.
Heute wässern nur noch die wenigsten Bauern nach der traditionellen Art. Der Aufwand ist zu gross. Die Suonen selbst braucht es aber dennoch. Heute legen die Bauern einfach einen langen Schlauch in die Suone, an dessen Ende ein Rasensprenger angeschlossen ist. Dass auch die Touristen Freude haben an den kleinen Bächlein und den schön flach daran entlangführenden Wegen, das hilft natürlich bei deren Erhaltung. Denn der Tourismus bringt Wertschöpfung ins Berggebiet. In Grächen genauso wie beim Witenwasserenstock.
Diese Reportage erschien zuerst in der «Berghilf-Ziitig».