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Neues Buch
Vom unbeschwerten Umgang mit dem Tod
Von Milena Moser
8.10.2019
«Wenn wir den Tod nicht fürchten, wird das Leben leichter,» sagt Milena Moser. Die Schweizer Bestsellerautorin weiss von was sie spricht: Ihr Partner Victor-Mario Zaballa ist schwer krank. Jetzt hat das Paar ein Buch über den Tod geschrieben und gezeichnet.
In der mexikanischen Kultur ist der Tod immer präsent, nie tabuisiert, ganz im Unterschied zur europäischen Kultur. Man freut sich auf den Tag der Toten, wenn die Verstorbenen zu Gast sind, um ein rauschendes Familienfest mit Torten und Tequila, Geschenken und Gelagen zu feiern.
Die Schweizer Bestsellerautorin Milena Moser, die vor sechs Jahren in die USA ausgewandert ist, hat eine sehr persönliche Geschichte über den Día de los Muertos geschrieben: Ihr Partner Victor-Mario Zaballa, von ihm stammen die Illustrationen im Buch, leidet an einer schweren Krankheit.
Doch Zaballa sieht dem Ende ohne Furcht entgegen, denn er weiss: Den Toten geht es blendend.
Das Buch «Das schöne Leben der Toten. Vom unbeschwerten Umgang mit dem Ende» erscheint heute im Verlag Kein & Aber. «Bluewin» publiziert exklusiv das Kapitel «Alle Toten sind willkommen».
Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss «Bluewin»-Regeln.
Alle Toten sind willkommen
Wir holen die Plastikkisten aus dem Keller, die zentnerschwere Tischplatte, die wir auf eine Decke legen und wie einen Schlitten die Treppe hochziehen. Victor hat die ganze Nacht Scherenschnitte produziert. Große Totenköpfe, mit denen wir das Bücherregal überkleben. Victor hat die wuchtige Wohnwand vor zwanzig Jahren selbst gebaut. Sie besteht nicht nur aus Bücherregalen, Schubladen und Glasschränken, sondern öffnet sich genau in der Mitte zu einem kleinen Hausaltar. Hier stehen das ganze Jahr Kerzen.
Früher schaute Ann aus dieser Nische in die Stube, mit leicht abgewandtem Gesicht, entspanntem Lächeln und einem Glas in der Hand. Als ich Victor kennenlernte, gab es keinen Ort im ganzen Haus, in dem einen ihr klarer, kluger Blick nicht erreichte. Damals rührte mich das. Später verunsicherte es mich. Speziell, dass sie gleich aus zwei Perspektiven auf das Bett herunterschaute, das unseres geworden war, war schwer auszuhalten.
»Sie ist überall«, sagte ich.
Und er: »Du meinst hier, in diesem Haus? Nein, sie ist nicht hier. Nur am Día de los Muertos schaut sie vorbei.« Das war auch der Grund, warum ich dem Fest die ersten Jahre fernblieb. Ich wollte diese seltene Begegnung nicht stören. Mit der Zeit haben wir uns aneinander gewöhnt, und ihre Porträts hängen nun neben denen meiner Kinder. Heute freue ich mich auf ihren Besuch.
»Ich geh in den Mission District, Kaktusfrüchte kaufen«, ruft Victor mir zu.
»Ist gut.« Es ist erst gegen Mittag, die Gäste werden nicht vor fünf erwartet. Ich setze mich an den Küchentisch und klebe die Bilder unserer Muertitos auf leere Pillenröhrchen. In Amerika werden Medikamente nicht in Originalverpackungen verkauft, sondern in runde, orangefarbene Plastikbehälter mit kindersicherem Verschluss umgefüllt. Victor sammelt diese Behälter.
Es sind so viele. Ich möchte sie am liebsten entsorgen, nicht an sie erinnert werden. Aber jetzt können wir sie brauchen. Sie haben genau die richtige Größe, um ein Foto aufzustellen. Es sind so viele, denke ich wieder. So viele Medikamente, so viele Tote. Victor hat in den letzten Jahren zahlreiche Freunde verloren. Und er lebt immer noch. So etwas wie survivor’s guilt kennt er nicht. Wenn man davon ausgeht, dass die Toten das schönste Leben haben, muss man sich nicht schuldig fühlen. Aber man kann sie vermissen.
Stunden vergehen, Victor ist noch nicht zurück. Das bin ich gewohnt. Das Zusammenleben mit ihm hat die letzten Anteile der Schweizer Hausfrau in mir ausgelöscht, den letzten Anspruch auf Perfektionismus – beides war nie sehr stark in mir angelegt. Trotzdem zucke ich manchmal zusammen, wenn er im strömenden Regen Geranien umpflanzt, während die ersten Gäste schon vor der Tür stehen – Gäste, die er zum Essen eingeladen hat, wohlgemerkt. Da zuckt schon mal etwas vergessen Geglaubtes in mir auf.
Aber die Erfahrung zeigt: Es klappt immer. Die Gäste nehmen sich ein Bier aus dem Kühlschrank, Victor kommt irgendwann wieder herein und leitet die Truppe im Tortilla-Backen an. Seine Einladungen sind immer ein Erfolg.
Jetzt ertappe ich mich dabei, wie ich alle fünf Minuten auf die Uhr schaue. Ich versuche ihn anzurufen. Er nimmt nicht ab. Ich versuche es noch mal. Und noch mal.
Ich war nicht immer so, habe nie auf ständiger Erreichbarkeit bestanden und nehme auch für mich in Anspruch, das Telefon auszuschalten. Es sind die verdammten Krankheiten, die mich zur hysterischen Helikopterfreundin machen. Vielleicht, weil sich unsere Liebe über Skype entwickelt hat, haben wir die Gewohnheit beibehalten, uns mehrmals täglich zu sprechen, egal, wo wir gerade sind. Einmal, als ich auf Lesereise war, erklärte er mir, ich hätte ihn die letzten beiden Tage nicht erreichen können, weil er nach Monterey gefahren sei, um ein Bed and Breakfast für unseren nächsten Ausflug an die Küste auszuprobieren. Und da habe er nun mal keinen Empfang gehabt. Und es sei dort so kalt gewesen, dass er mitten in der Nacht nach San Francisco zurückgefahren sei. Während des Fahrens nähme er das Telefon nun mal nicht ab, das sei ja verboten und außerdem wolle er mir auch keine unnötigen Sorgen bereiten. Im Nachhinein macht diese viel zu ausschweifende Erklärung überhaupt keinen Sinn, aber damals glaubte ich jedes Wort. Auch das ist eine Eigenschaft, die ich offenbar nicht ablegen kann, egal, wie oft mir das Leben das Gegenteil beweist: Ich glaube grundsätzlich, was man mir erzählt.
Wochen später, längst wieder in San Francisco, begleitete ich Victor zu einer Kontrolluntersuchung. Wir haben unsere kleinen Rituale an diesen Tagen, gehen nach dem Arzttermin in einem der schicken neuen Lokale an der 9th Avenue am Eingang des Golden Gate Parks essen oder besuchen das De-Young-Museum, dessen verwitterten Kupferturm man von den Fenstern der Wartezimmer der Uniklinik aus sieht. »Ich sehe, Sie waren letzten Monat in der Notaufnahme«, sagt die Ärztin, den Blick nicht vom Computerbildschirm wendend. »Hat man Sie über Nacht behalten?« »Nein, nein …« Victor winkt verlegen ab. »Das war letztes Jahr«, will ich schon sagen, da sehe ich seinen ausweichenden Blick und verstehe. »Monterey, hm?« Hinter diesem kleinen Hügel, denke ich.
Um vier versuche ich mich zu erinnern, was ich im Yoga über beruhigenden Atemrhythmus, in der Zenmeditation über Gelassenheit und bei meiner letzten Therapeutin über das Erkennen meiner Bedürfnisse gelernt habe. Und ich beschließe, den Altar selbst aufzubauen. Das habe ich noch nie gemacht. Ich bin aufgeregt, nervös, fast, als tue ich etwas Verbotenes. Etwas, das mir nicht zusteht. Gleichzeitig denke ich, ich habe oft genug dabei geholfen, ich kann das.
Ich baue also eine dreistufige Pyramide aus den Umzugskisten und der tonnenschweren Tischplatte. Ich verkleide das notdürftige Gerüst mit Packpapier. Dann hole ich die Scherenschnitte aus dem Atelier. Wie oft habe ich die hauchdünnen farbigen Papierstreifen schon nach Victors Anweisung übereinandergeklebt? Wie oft hat er mich um meine Meinung gefragt: »Was meinst du, erst das Lila oder das Orange?«
Ich kann das, rede ich mir zu. Mir ist bewusst, dass ich nicht einfach einen Küchenschrank umräume. Das hier ist wichtig. Es verlangt Respekt. Ich lege die Scherenschnitte auf den Boden und probiere verschiedene Farbkombinationen aus. Die Arbeit wird durch unsere beiden jungen Katzen etwas erschwert, die wir vor zwei Wochen aus dem Tierheim geholt haben. Sie versuchen, die flatternden Papierstreifen zu erhaschen, sie reißen Löcher in die Verkleidung, schließlich sperre ich sie in den Garten. Und ich versuche mich zu erinnern, was Victor mir erzählt hat:
»Wie man einen Altar errichtet, habe ich von meiner Großmutter gelernt. Sie hat mir nichts erklärt. Obwohl ich ihr ständig in den Ohren lag: ›Warum machen wir das so? Warum nicht so?‹ Bis sie mich schließlich entnervt anfuhr: ›Hör auf zu fragen, mach es einfach. Mach es richtig, mach es schön. Am Ende ist der Altar ja für uns, nicht für die Toten.‹
Aber egal, was meine Großmutter gesagt hat: Grundsätzlich gibt es nicht eine einzige richtige, traditionelle Art, einen Altar zu errichten. In Morelos zum Beispiel nimmt man oft den Stamm eines Bananenbaumes als einfaches Podest, das man mit meterhohen Kerzen schmückt. In Puebla hingegen baut man halbe Schlösser, komplizierte Strukturen aus Holz mit Türmchen und Balkonen, ganz mit weißem Stoff, weißen Scherenschnitten, weißen Bändern geschmückt. Die sehen aus wie überdimensionierte Hochzeitstorten.
Man arbeitet mit dem, was man hat. Und bei mir sind das nun mal die alten Umzugskisten und Tischplatten. Mein Altar hat drei Stufen. Ganz einfach. Zuoberst stehen die Heiligen. Meine Hausheilige ist die Virgen de los Dolores, die Jungfrau der Schmerzen. Vor der Kolonialisierung war sie die Göttin der Toten. Grundsätzlich steht bei uns hinter jeder katholischen Heiligenstatue eine präkolumbianische Gottheit. So hat unsere Kultur überlebt.«
Ich schaue mich um. Auf einem Beistelltisch sehe ich grobe, steinerne Götterstatuen. Aber ich traue mich nicht, sie auf den Altar zu stellen. Im Flur blinkt eine kitschige Jesusstatue, aber ich glaube nicht, dass Victor die auf seinem Altar haben will. Ich finde einen Kerzenständer, der aus sieben Skeletten besteht, die Kerzen stecken in den Totenköpfen. Den stelle ich auf die oberste Stufe. Die Götter überlasse ich lieber Victor.
»Auf die mittlere Stufe kommen unsere Muertitos, die lieben Toten. Sie können durch Fotos repräsentiert werden, durch persönliche Erinnerungsgegenstände, eine Haarlocke, ein Paar Ohrringe, ein Buch.«
Ich stelle erst die gerahmten Bilder auf, die jedes Jahr auf den Altar kommen. Ann in der Mitte, daneben Victors Großeltern im Doppelrahmen, seine im Kindesalter verstorbene Schwester Lulu in einem verspielten Metallrahmen. Ansonsten kommen nur die Bilder der in diesem Jahr Verstorbenen auf den Altar. Aus Platzgründen, sagt Victor. Ich bin ihm dankbar dafür. So muss ich mich nicht fragen, ob ich ein Bild meines Vaters auf den Altar stellen soll. Die Entscheidung würde mich überfordern. Aber Victors Mutter steht ja auch nicht da.
Ich hole die Pillenröhrchen, auf die ich die Fotos unserer Muertitos geklebt habe. Schiebe sie hin und her, arrangiere sie immer wieder neu, wie eine Gastgeberin die Tischordnung plant. Bruno zwischen zwei dunkelhaarige Frauen, die ich nicht kenne, sympathisch, aber nicht zu attraktiv. Stephen ein bisschen an den Rand, was auch sein bevorzugter Platz bei Partys war. Ich stelle ihm ein kleines Bild der indischen Heilerin Amma zur Seite, die er verehrt hat. Vorne lasse ich Platz für die Toten, die noch kommen werden. »In einer traditionellen Umgebung, in der jede Familie einen eigenen Altar hat, ist das kein Thema. Aber hier bringen meine Gäste Bilder und Mementos ihrer eigenen Muertitos mit. Da muss genug Platz sein auf dem Altar.«
Auf der untersten, größten Stufe wird das Essen angerichtet. Victor hat bereits Totenbrot gekauft, das ich auf großen, bunt bemalten Platten anrichte. Ich erinnere mich an das Gefäß, in dem Victor den Kopal verbrennt, eine kleine Schale, die von tönernen Skeletten hochgehalten wird. Wasser, Tabak, Salz. Mit den Kaktusfrüchten, die Victor vom Markt mitbringen will, werden später Tamales gefüllt. Die zwei riesigen Pfannen mit den Dampfeinsätzen habe ich schon aus dem Keller geholt.
Jetzt bringe ich die Blumenkübel vom Balkon, schneide die Stiele der Ringelblumen an. Ihr Duft füllt das Wohnzimmer, der Blütensaft klebt an meinen Fingern, ich wische sie an der Hose ab. Die Blumen verteile ich in Vasen, stelle sie rund um den Altar herum auf den Fußboden. Aus den Blüten lege ich eine Spur zum Fenster, um den Toten den Weg zu weisen.
»Wir hängen auch immer eine bunte Laterne ins Fenster«, höre ich Victors Stimme. »Für die Toten, die niemanden mehr haben. Damit sie sehen: Hier bin ich willkommen.«
Alle Toten sind willkommen. Niemand wird zurückgewiesen.
Bibliografie: «Das schöne Leben der Toten. Vom unbeschwerten Umgang mit dem Ende», Milena Moser und Victor-Mario-Zaballla (Ilustrationen), Verlag Kein & Aber, 24 Franken