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Buchauszug «Ich habe einen Knall – Sie auch?»
Von Mirjam Indermaur und Denise Hürlimann
11.9.2019
Eine Patientin schreibt ausgerechnet mit ihrer Psychotherapeutin ein Buch. Erzählt wird eine komplizierte Geschichte um einen familiären Knall – und doch finden beide das Lachen wieder.
Am Morgen noch hatte Mirjam Indermaur ihren Söhnen einen Vortrag darüber gehalten, dass sich eine Geschirrspülmaschine nicht von allein leert, aber schon ein paar Stunden später verschoben sich ihre Prioritäten radikal. Ihr Mann hatte die Diagnose Krebs erhalten.
Ohnehin bereits seit längerer Zeit mit einer Erschöpfungsdepression belastet, suchte sie sich psychotherapeutische Unterstützung und fand diese bei Denise Hürlimann, wo sie sich vom ersten Moment an aufgehoben fühlte.
Nach der Therapie entwickelte Mirjam Indermaur die Idee, ein Buch über den Weg, den die beiden Frauen miteinander gegangen waren, zu schreiben. So ist – im wechselseitigen Erzählen – eine Psychotherapie zum Mitlesen entstanden.
Ein Buch, das nicht nur einen tiefen Einblick in die Welt der Psychotherapie gibt, sondern auch hilft, Strategien zum Überleben von schwierigen Zeiten zu entwickeln und sogar das Lachen wiederzufinden.
«Bluewin» publiziert vier Kapitel aus dem neuen Buch «Ich habe einen Knall – Sie auch? Eine Psychotherapie zum Mitlesen» als exklusiven Vorabdruck. Die Leserinnen und Leser können zudem am Ende der Geschichte das Buch zu einem vergünstigten Preis direkt beim Verlag bestellen.
Es handelt sich hier um einen originalen Textauszug. Deshalb erfolgten keine Anpassungen gemäss «Bluewin»-Regeln.
Mirjam Indermaur, Patientin: Auf dem richtigen Weg
Ich steckte wieder einmal in einem Jammer-Modus. Mir war unwohl, und ich hatte Sodbrennen, fühlte mich müde und ausgelaugt. Der Gesundheitszustand meines Mannes schwankte, je nachdem wie es ihm nach der Nahrungsaufnahme ging. Und auch mein Jüngster stellte mich vor eine neue Herausforderung. Emanuel war nun in der Pubertät angekommen und schien ziemlich durcheinander zu sein. Er entwickelte auf einmal verschiedene Phobien, die ich nicht nachvollziehen konnte. Das Thema Sauberkeit war plötzlich höchst akut, und er fürchtete sich vor Keimen jeglicher Art. Ich sprach dieses für mich unverständliche Verhalten bei Frau Hürlimann an, und wir beschlossen, einige Wochen einfach abzuwarten, wie sich das Ganze entwickelte. Eine bewährte Taktik, denn alle meine Kinder funktionierten von jeher so, dass sie erst dann ein Problem angingen, wenn sie selbst dazu bereit waren. Es hatte gar keinen Sinn, sie zu etwas zwingen zu wollen.
Was mich betraf, taktierte Frau Hürlimann äusserst clever: Sie nahm ihre alten Notizen zu Hilfe und führte mir vor Augen, dass es mir bereits sehr viel besser ging als noch vor einem Jahr. Beispiele von früheren schwierigen Situationen, denen ich durchaus erfolgreich begegnet war, und die Tatsache, dass ich es geschafft hatte, auch einmal Nein zu sagen, nahmen mir jeglichen Wind aus den Segeln. Am Ende des Gesprächs verspürte ich tatsächlich so etwas wie Zufriedenheit. Es ging also doch vorwärts!
Meine Tage waren wie immer reich gefüllt, und ich kämpfte mich wie gewohnt durch zahlreiche Aufträge, die ich vor den Herbstferien noch erledigen wollte. Der Plan war, einige Tage mit meinen Söhnen in unserem Ferienhaus zu verbringen und anschliessend zehn Tage allein dort zu bleiben. Philipp hatte beschlossen, uns dieses Mal nicht zu begleiten, da er im Geschäft an einigen Projektarbeiten beteiligt war, die er nicht versäumen wollte. Ich freute mich auf meine ersten Tage ohne Familie seit vielen, vielen Jahren. Gleichzeitig war mir ein wenig bange davor. Ganz allein würde ich wesentlich stärker mit mir selbst beschäftigt sein. Ob es mir wohl gelang, dies als angenehm zu erleben? Würde ich aus den Anstössen, die ich bei Frau Hürlimann bekommen hatte, Positives ziehen können?
Tatsächlich führten diese Solo-Tage zu einer leichten Verwirrung. Ich war froh, nur für mich schauen zu müssen, und vermisste gleichzeitig meine Lieben ganz schrecklich. Trotzdem zog ich täglich noch vor dem Frühstück entspannt meine Runden im Pool und nahm mein Frühstück mit Müsli und frischen Früchten genüsslich im Liegestuhl ein, während mich die Sonne wärmte und ich an meiner Bräune arbeitete. Dann setzte ich mich für zwei, drei Stunden an den Computer, schrieb einen neuen Text für meinen Blog, gestaltete eine Homepage um oder erledigte geschäftliche Korrespondenz. Schön war, dass ich mich hier an keinen Zeitplan halten musste, denn durch die Zeitverschiebung erwartete niemand, mich sofort zu erreichen, und ich selbst nahm mich da auch nicht so sehr in die Pflicht. Wollte ich einfach mal ein wenig auf dem Liegestuhl dösen, so tat ich das.
Was mir allerdings nicht gelang, war, Emanuel zu vermissen, da ich mit ihm gleich mehrere Stunden täglich per Skype in Verbindung stand. Er zelebrierte verschiedene seiner Ängste regelrecht, erzählte mir jedes Detail seines Tages und seine Gedanken dazu und forderte von mir konstante Bestätigung ein. Ich musste meine wertvollen Tage ein wenig um seinen Stundenplan herum orientieren, weil es mir wichtig war, für ihn da zu sein. Seine Brüder und sein Vater verloren aber langsam die Geduld mit ihm. Sie hatten kein Verständnis mehr für seine permanenten Wiederholungen und Fragen, auf die er die Antworten schon längst kannte. Ich schaffte es zwar immer wieder, ein wenig abzuschalten und meinen eigenen Vergnügungen nachzugehen, ging shoppen, wanderte durch das nahe Naturschutzgebiet oder spazierte den Strand entlang, bevor ich mich zum Abendessen mit Freunden traf. Eine völlige Entspannung war allerdings nicht möglich, da ich als Mutter zu sehr in der Pflicht stand, für meinen Sohn da zu sein. Es passte gut, dass ich nicht zu lange weg war.
Wieder zurück, freute ich mich auf das nächste Gespräch mit Frau Hürlimann, der ich viel Positives zu berichten wusste. Mir ging es endlich einmal richtig gut. Meine Familie freute sich, dass ich wieder zurück war – uns allen hatte diese Auszeit gutgetan. In den folgenden Tagen und Wochen wandelte sich einiges, wenn auch nur in ganz kleinen Schritten. So weigerte ich mich manchmal, etwas zu tun, das ich vorher stets ohne Murren erledigt hatte, und war es auch nur etwas so Simples wie den Abfall wegbringen, was ich nun meinen Söhnen übertrug. Oder ich ignorierte ganz einfach die Probleme anderer, anstatt sie wie früher zu kommentieren und gar zu lösen versuchen.
Nach wie vor unterstützte ich Patrik bei seiner Geschäftstätigkeit, wobei wir manchmal in hitzige Diskussionen gerieten. Er war sichtlich gestresst, da die Herausforderung, eine eigene Firma zu führen, für einen Achtzehnjährigen recht happig war. Ich wiederum war manchmal zu ungeduldig und verstand nicht, wie man die Notwendigkeit bestimmter Abläufe nicht einsehen konnte. Auch von meinem Mann hätte ich mir etwas mehr Engagement bei der Arbeit gewünscht. Er schien einfach nicht so richtig in seinen Alltag zurückzufinden – hier war ich wohl ebenfalls nicht ganz so einfühlsam, wie ich es hätte sein sollen.
Dadurch, dass ich mich etwas mehr auf mich konzentrierte, kümmerte ich mich weniger um das Wohlbefinden meiner Umgebung und dachte, dafür müssten die anderen selbst sorgen. Das brachte mir harsche Kritik meiner Mutter ein, deren Sorgen ich nun offenbar nicht mehr im gleichen Mass teilte. Sie meinte, dass mir meine Psychologin wohl nicht guttue. Kaum hatte sie diesen Satz ausgesprochen, dachte ich, dass das Gegenteil zutraf: Meine Psychologin tat mir sogar sehr gut! Ich erzählte Frau Hürlimann, was meine Mutter gesagt hatte und wie ich es empfand: dass es gut für mich war, mich nicht mehr für alles und jeden verantwortlich zu fühlen. Offenbar war ich auf dem richtigen Weg.
Zeit, einmal innezuhalten und einige Denkanstösse meiner Psychologin und daraus folgende Erkenntnisse genauer anzuschauen.
Denise Hürlimann, Psychotherapeutin: Persönlichkeit und Verhalten
«Personality doesn’t change», sagte ein früherer Vorgesetzter immer, wenn wir über andere Menschen und unsere mit diesen verbundenen Hoffnungen sprachen: Die Persönlichkeit verändert sich nicht. Die Persönlichkeit eines Erwachsenen ist relativ stabil, von seltenen Extremsituationen oder Krankheiten abgesehen – das sind psychoorganische Schädigungen, wie zum Beispiel ein Schlaganfall oder ein Hirntumor, oder extreme Erfahrungen, wie etwa eine lebensbedrohliche Gefangenschaft.
Bestimmt fragt sich jetzt der eine oder die andere aufmerksame Leserin, was wir Psychotherapeuten denn in der Therapie mit unseren Patienten genau machen, wenn die Persönlichkeit nicht so einfach verändert werden kann. Genau, wir arbeiten an der Einstellung oder am Verhalten. Und das Verhalten ergibt sich aus der Gleichung «Verhalten = Persönlichkeit × Situation». Eine risikoscheue Person (= Persönlichkeit) geht vermutlich nicht Bungee-Jumpen und macht kein Heliskiing in Kanada (= Situation). Die beiden Parameter Persönlichkeit und Situation sind also nicht unabhängig voneinander.
Allerdings ist es mit der Persönlichkeit so eine Sache. Wir können sie nicht exakt beobachten und beschreiben wie etwa die Schuhgrösse oder das Körpergewicht. Genau das macht die Psychologie mitunter so spannend. Die Persönlichkeit ist ein sogenanntes Konstrukt, etwas, das nur ungefähr beobachtet, in das aber viel hineininterpretiert werden kann. In der Psychologie wurden aufgrund zahlreicher Studien einzelne Beobachtungspunkte definiert, mit denen sich eine Persönlichkeit einigermassen zuverlässig beschreiben lässt. Ein solcher Beobachtungspunkt kann beispielsweise das Kontaktverhalten sein: Wie leicht fällt es einer Person, auf unbekannte Leute zuzugehen? Findet sie rasch die richtigen Worte, um ein Gespräch zu initiieren, oder wartet sie lieber ab? Fühlt sie sich schnell unwohl, wenn sie an einem neuen Ort ist und auf unbekannte Menschen trifft?
Aber zurück zur Psychotherapie: Die Einstellung eines Menschen zu einer Situation ist, wie gesagt, sehr wichtig. Bestimmte Umstände und Mitmenschen können nicht verändert werden, aber an unseren Einstellungen dazu können wir durchaus arbeiten. Das heisst, eine schwierige Chefin lässt sich nicht einfach auswechseln und der nervige Arbeitskollege wird sich keiner Gehirnwäsche unterziehen. Aber die Einstellung zum Nörgeln eines Chefs oder zur Oberflächlichkeit einer Kollegin lässt sich überdenken. Und dabei ist die sogenannte Selbstwirksamkeitserfahrung wichtig, das heisst, die Überzeugung einer Person, auch schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können.
Wer Veränderungen erreichen will, muss neue Denk- und Verhaltensweisen einüben und wird dabei die Erfahrung machen, dass er tatsächlich etwas bewegen kann. Mit dem Rauchen aufzuhören, fällt leichter, wenn man fest daran glaubt, es zu schaffen. Viele Patientinnen und Patienten haben eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung, und dies haben sie bereits in der Kindheit erworben. Ziel der Psychotherapie kann es dann sein, diese Selbstwirksamkeitserwartung zu erhöhen, den Menschen also im Sinne eines Empowerments, einer Selbstermächtigung, zu zeigen, dass sie etwas bewegen können, weil sie die Fäden in den Händen halten. Eine schüchterne oder introvertierte Patientin motiviere ich zum Beispiel als Übung zu einem Small Talk auf der nächsten Party.
Dabei hilft, wenn sie ein paar Beispielsätze wie Asse im Ärmel hat, die sie in dieser oder anderen Situationen einfach zücken kann. Wenn sie mit einigen vor dem Spiegel geübten Sätzen auf fremde Menschen zugeht und dabei die Erfahrung macht, tatsächlich ein paar Sätze wechseln zu können, dann ist das eine wertvolle Selbstwirksamkeitserfahrung. Das nächste Mal geht sie bereits etwas unverkrampfter in eine neue Situation und macht genau deswegen wieder positive Erfahrungen. Genauso kann es einem mit einer höflich formulierten Kritik in einem Restaurant ergehen, und das zu kalt servierte Menü wird vermutlich anstandslos gewärmt.
Das Gegenteil kann jedoch passieren bei einem vorschnellen Arbeitsunfähigkeitszeugnis: Gerade am Arbeitsplatz lassen sich meist rasch Selbstwirksamkeitserfahrungen sammeln. Wer im gewohnten Arbeitsumfeld spürt, dass er auf seinem Gebiet kompetent ist, kann positive Bewältigungserfahrungen sammeln. Wer aber gleich krankgeschrieben oder bei der kleinsten Krise heimgeschickt wird, hat diese Chance nicht. Das Gefühl der Unzulänglichkeit – das Gegenteil der Selbstwirksamkeitserfahrung – kann sich dann im Kopf festsetzen. Patienten in einer Krise rate ich deshalb, jetzt genau das zu tun, worin sie gut sind. Denn auf Erfolgen kann man spiralmässig aufsteigen – so wie man auf der anderen Seite immer tiefer in einen Teufelskreis geraten kann. Das kennen Sie bestimmt alle. Auch die einfach klingende Übung, sich einmal gezielt auf die eigenen Erfolge zu besinnen, ist als Selbstwirksamkeitserfahrung hilfreich: Dabei lasse ich meine Patienten jeden Abend drei Erfolgserlebnisse notieren. Wenn Sie einmal, wie als Vorbereitung auf ein Bewerbungsgespräch, die eigenen Stärken und Erfolge auflisten, werden Sie merken, wie dies von innen Kraft gibt.
Frau Indermaur ermunterte ich zu sozialen Kontakten. Als sie auf andere Menschen zuging, machte sie die Erfahrung, dass sie offene Türen einrannte. Auch das Sich-abgrenzen-Können von ihrer Mutter war mit Selbstwirksamkeitserfahrungen verbunden. Zumindest für Frau Indermaur, denn ihre Mutter hat das höchstwahrscheinlich anders erlebt.
Mirjam Indermaur: Auf der Suche nach meinem Ich-Faktor
Auslöser für meine Therapie bei Frau Hürlimann war die Situation, dass mein Mann an Krebs erkrankte. Diese Situation hatte unser aller Leben durcheinandergebracht. Meine Psychologin erklärte mir anhand einer interessanten Gleichung, dass die Persönlichkeit sich eigentlich nicht verändert und dass sie massiven Einfluss auf das Resultat einer Psychotherapie hat. Diesen «Ich-Faktor» brachte ich in die Therapie mit ein, und es ist von Vorteil, wenn man sich selbst so gut wie möglich kennt, um allfälligen psychischen Problemen zuvorzukommen oder ihrer Herr zu werden.
Ich interessiere mich schon lange für Psychologie und habe mich bereits während meiner früheren Behandlung mit meiner Persönlichkeit auseinandergesetzt. In den Therapiegesprächen bekam ich immer wieder neue Ideen zum Erfassen meiner Person. Ich kannte also meine Ängste, wusste, wie ich auf gewisse Situationen reagiere und wo meine Stärken und Schwächen liegen. Oder dachte es zumindest. Die Tatsache, dass ich vor ein paar Jahren in eine Depression gerutscht war, sprach dafür, dass ich wohl doch nicht so genau über mich Bescheid wusste. Die neu aufgetretene Krisensituation durch die Krankheit meines Mannes forderte nun, dass ich die Faktoren der Gleichung «Verhalten = Persönlichkeit × Situation» wirklich in den Griff bekam.
Für mich hiess das nun «ich × Krebs». Dem Faktor Krebs wurde dank zahlreichen Ärzten gut Sorge getragen, und so konnte ich dieses Thema im Moment so stehen lassen. Das Resultat «Verhalten» war ebenfalls gegeben: Ich wollte gesund, gelassener und selbstsicherer werden. Einzig noch etwas unbekannt war also mein Ich-Faktor.
Ich lernte in den Gesprächen mit Frau Hürlimann, meine Persönlichkeit kritisch zu hinterfragen und dass man seine Einstellungen durchaus an neue Situationen anpassen kann. Bestimmt half es mir, dass ich im Grunde meines Herzens ein positiver Mensch bin. Ich gehe davon aus, dass niemand mir Böses will und am Ende immer alles gut wird. Oder dass es dann eben noch nicht das Ende ist, wie ein bekanntes Sprichwort sagt. Gleichzeitig hinterfrage ich aber stets alles und finde selten eine Antwort, die mich einfach ruhen lässt. Es scheint mir manchmal, dass ich selbst dann nicht zufrieden sein kann, wenn alles stimmt. Irgendwie schaffe ich es immer, sobald ich ein Ziel erreicht habe, mir neue, weiter entfernte Ziele zu setzen. An guten Tagen nenne ich das «ehrgeizig», aber manchmal lasse ich mich durch mein eigenes Verhalten stressen. Die Diskrepanz zwischen dem, was mir in meinem Handeln bewusst war, und dem, was mein Unterbewusstsein steuerte, hatte vor Jahren dazu geführt, dass ich nicht mehr konnte. Nach meinem Zusammenbruch versuchte ich dann mein Glück erstmals mit einer Gesprächstherapie und konnte den einen oder anderen Gedanken mit auf den Weg nehmen.
Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, einen guten Therapeuten zu finden, den man auch mag. Die Chemie muss stimmen. Und während es wohl die meisten Psychologen verstehen, das im Studium antrainierte Wissen schulbuchmässig einzusetzen, gibt es auch solche, die darüber hinausgehen und nicht nur Basisgedanken vermitteln, sondern ihren Patientinnen und Patienten auch dabei helfen, diese selbständig weiterzuentwickeln, indem sie die richtigen Fragen stellen. Denn die Hauptarbeit zu meiner Genesung liegt immer bei mir – so toll ich es auch fände, wenn ich das delegieren könnte.
Viele Stunden des Nachdenkens später kannte ich nun viele meiner Mechanismen und wusste auch, welche dafür zuständig waren, dass ich damals nicht mehr konnte: mein Übereifer und meine ständige Suche nach Bestätigung. Die Ursache dafür kannte ich nicht. Und dann gab es auch noch den immer klarer zutage tretenden Unterschied zwischen meinem Selbstbild und dem Bild, das sich andere von mir machen. Während ich sehr genau wusste, dass ich oftmals unsicher war und Angst vor Zurückweisung hatte, sah mein Umfeld in mir etwas ganz anderes. Ich bin, wie gesagt, nicht die Powerfrau, die man in mir sieht. Wenn ich einen Raum betrete, wirke ich wohl eher etwas abweisend, was dazu führt, dass ich nicht angesprochen werde. Und weil ich selbst zu schüchtern bin, spreche auch ich niemanden an – Sie können sich nun sicher vorstellen, wie wenig ich öffentliche Anlässe oder gar Auftritte mag. Manchmal scheine ich Menschen sogar regelrecht einzuschüchtern oder zu überfordern mit meinem vermeintlich selbstsicheren Auftreten und meinen vielen Ideen im Kopf. Dabei habe ich einfach Freude daran, Ideen zu entwickeln und umzusetzen, und finde es sogar toll, wenn mir jemand konstruktiv-kritisch begegnet. Die Selbstsicherheit ist in Tat und Wahrheit reiner Selbstschutz: So wagt es niemand, mich anzugreifen.
In den Gesprächen mit Frau Hürlimann klagte ich darüber, dass niemand mich richtig wahrnahm. Sie legte mir nahe, mich selbst mehr ins Spiel zu bringen, damit es meinen Mitmenschen überhaupt möglich würde, mich besser kennen zu lernen. Statt nach aussen so zu tun, als bräuchte ich niemanden, sollte ich etwas offensiver werden. Ich begann nach alternativen Strategien zu suchen. Ein simpler, aber sehr hilfreicher Tipp stammte dabei von meiner Psychologin: Ich fragte nicht mehr, ob man sich vielleicht mal treffen könne – und blieb damit in der sicheren Selbstschutzzone –, sondern schlug ganz gezielt Ort und Uhrzeit vor. Mittwoch, 16 Uhr, im Café Lindner. Zwar riskierte ich damit auch einmal eine Absage, lernte aber sehr schnell, dass ein Nein bei so konkreten Anfragen keine Zurückweisung meiner Person bedeutete, sondern dass nur der Termin nicht passte. Im Regelfall wurde mir sogar eine Alternative angeboten. So einfach konnte es also sein, wieder unter Leute zu kommen! Ich schaffte es sogar, neue Freunde zu finden – zuvor hätte ich mich nie getraut, ihnen eine Verabredung vorzuschlagen.
Natürlich bin ich noch lange nicht am Ende mit meinen Anpassungen und weiss, dass der Ich-Faktor eine grosse Variable ist, die aber dazu beiträgt, dass sich immer wieder neue Resultate ergeben.
Denise Hürlimann: Depressive Phasen
Depressive Phasen kennen viele Leute. Schliesslich gehören Depressionen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Das kann sich im Rahmen einer depressiven Episode abspielen, eine saisonale Komponente kann eine Rolle spielen, die depressive Stimmung kann mit Angstgefühlen gemischt sein oder sogar mit psychotischen Elementen. Einige leiden auch unter körperlichen Beschwerden, wie Frau Indermaur. Obwohl es so viele verschiedene Formen und Ausprägungen gibt wie verschiedene Menschen, die darunter leiden, müssen wir Fachleute das Ganze in vordefinierte Gefässe giessen und nicht zuletzt auch für die Forschung und für Versicherungen die Zustände von Patienten bestimmten Krankheitsbildern zuordnen.
Eine Depression ist gekennzeichnet durch eine niedergeschlagene Stimmung, durch Interessensverlust und Antriebsschwäche. Und darin liegt auch eine der grossen Herausforderungen für die Betroffenen. Während sie am liebsten mit der Decke über dem Kopf im Bett bleiben würden, ist das Gegenteil meistens hilfreicher. Sowohl ambulant als auch in einer Klinik ermutigen wir die Patientinnen und Patienten, etwas zu unternehmen, soziale Kontakte und Hobbys zu pflegen. Wir nennen das «Aktivierung». Die meisten versichern mir danach, dass es ihnen etwas besser geht. Auch hier greift die Selbstwirksamkeitserfahrung.
Gemein ist dabei aber, dass den, der in einer Depression steckt, eine solche Aktivierung gar nicht interessiert und er sich am eigenen Kragen packen muss, um wieder herauszukommen. In dieser Situation kommen einem aber kaum gute Ideen, und wenn doch, dann fehlt die Energie für die Umsetzung. Deshalb ist es sehr hilfreich, einen Plan zu haben. Solche Aktivierungspläne erarbeite ich zusammen mit den Betroffenen und mit der mir eigenen Hartnäckigkeit. Das können Vorsätze zur Ausübung eines Hobbys sein, eine vereinbarte Squash-Stunde, ein zu Hause bereitliegendes Puzzle, eine Teerunde mit einer Freundin oder ein Waldspaziergang. Wichtig ist, dass eine so geplante Aktivität verbindlichen Charakter hat, dass sie also auch wirklich umgesetzt wird.
Sobald jemand im Rahmen einer körperlichen Grunderkrankung oder einer Depression mit starken körperlichen Symptomen wie beispielsweise Rückenbeschwerden reagiert, ist die Aktivierung viel anspruchsvoller. Bei an Krebs Erkrankten ist dies häufig der Fall. Wer beispielsweise unter den Folgen einer Chemotherapie (Müdigkeit, Übelkeit, Schlaflosigkeit, Kälte- oder Hitzeüberempfindlichkeit, Schmerzen) leidet, dem fällt es schwer, geeignete Aktivitäten zu finden, die körperlich möglich sind und auch noch guttun. Da braucht es manchmal das Einbeziehen der Angehörigen in den Aktivierungsplan.
Unabhängig davon, ob es sich um eine depressive Episode gemäss international definierten Kriterien handelt oder um eine allgemeine Krise: Wenn jemand niedergeschlagen oder mutlos ist oder vielleicht gar nichts fühlt, kann der persönliche Leidensdruck enorm gross sein. Es hilft vielen Menschen, sich in dieser Situation jemandem anzuvertrauen. Einfach gehört zu werden, kann wohltuend wirken. Ich weise aber immer wieder darauf hin, dass von Angehörigen oder Freunden nicht erwartet werden darf, dass sie wissen oder gar nachfühlen können, wie es einem geht. Dazu ist vermutlich nur fähig, wer Ähnliches erlebt hat. Betroffene können erwarten, dass sie akzeptiert werden in ihrem Leiden, aber nicht, dass andere wissen, wie es sich anfühlt. Auch wenn Sie selber die eine oder andere Krise durchgestanden haben oder depressiv waren: Denken Sie daran, dass jede und jeder nur mit dem Kopf denkt und es äusserst schwer zu erfassen ist, wie andere sich fühlen und was sie deswegen tun sollten.
Krisen gehören zum Lebensweg fast aller Menschen. Es gibt keine Vorgaben, wie oft oder wie lange es einen treffen kann. Beispielhaft geraten wir in Krisen während und nach psychischen oder somatischen Krankheiten, bei Jobverlust, dem Tod eines nahestehenden Menschen, Schwierigkeiten im sozialen Umfeld, bei beruflichen Be- oder Überlastungen, bei Rollenkonflikten, Doppelbelastungen (Familie und Job) oder zu Beginn eines neuen Lebensabschnitts, wie zum Beispiel bei Berufseinstieg, bei der Geburt eines Kindes, der Pensionierung oder Heirat. Ich gehe davon aus, dass Krisen unvermeidbar sind und jeden treffen können. Eine Krise vergleiche ich häufig mit dem Schütteln einer Schneekugel, bei der es eine Weile dauert, bis sich der Schnee setzt und die Sicht wieder frei wird. Wer voll im Schneegestöber sitzt, kann sich kaum vorstellen, dass das irgendwann wieder aufhört. Nur in einem Punkt hinkt mein Vergleich: Bei einer Schneekugel ist die Dauer, wie lange die Flocken herumschwirren, abhängig davon, wie stark geschüttelt wird. Wovon hängt es aber bei der psychischen Krise ab? Darauf kann ich keine klare Antwort geben. Es wäre für viele Betroffene viel einfacher, wenn ich sagen könnte: «In drei Wochen haben Sie alles überstanden.» Ich vermute, die Dauer einer Krise hängt von den psychischen und sonstigen Ressourcen einer Person ab, also unter anderem von der Unterstützung, die sie dann geniesst, und von den Vorerfahrungen, die sie gemacht hat.
Psychotherapeutische Gespräche und Themen eignen sich gut für die Behandlung von Depressionen. Neben dem Ziel, im Alltag möglichst gut zu funktionieren und die Lebensqualität zu steigern, bearbeiten wir in der Psychotherapie auch zugrunde liegende Muster. Zu einer Depression gehört das negative Selbstbild, die negative Sicht auf die Zukunft und überhaupt auf alles. Schuldgefühle und Selbstvorwürfe kommen oft dazu. Und bei all diesen Themen sollte ein Umdenken stattfinden. Häufig muss ein Patient lernen, sich selber gegenüber wohlwollender und fürsorglicher zu sein – wie eben auch Frau Indermaur. In einer Psychotherapie kann man lernen, mit diesen negativen Faktoren, den Selbstvorwürfen, dem kritischen Selbstwertgefühl und so weiter, besser umzugehen. Nebst der Behandlung einer Depression gehört zur Psychotherapie auch die Prophylaxe, es gilt also, Möglichkeiten zu entwickeln, einer nächsten Episode vorzubeugen.
Dann gibt es natürlich noch den pharmakologischen Ansatz, Depressionen mit Medikamenten zu behandeln. Die heutigen Antidepressiva, die sogenannten selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, machen nicht abhängig und verändern den Patienten nicht. Sie greifen sehr selektiv in den Neurotransmitter-Stoffwechsel ein, indem sie einfach dafür sorgen, das körpereigene Serotonin im postsynaptischen Spalt länger verfügbar zu machen. Das bewirkt, dass sich der Patient eine dickere Haut zulegt und nicht mehr alles so nahe an sich herankommen lässt. Und das kann in einer depressiven Situation helfen. Negative Gedanken sind aus ein wenig Distanz besser auszuhalten. Ein solches Medikament verändert natürlich die schwierige Lebenssituation nicht, es macht keine Angehörigen wieder gesund und eliminiert auch keine bösen Vorgesetzten, aber es kann helfen, schwierige Situationen besser durchzustehen. So wie einem eine Krücke beim Gehen helfen kann, kann es sinnvoll sein, zeitweise auf ein Antidepressivum zurückzugreifen. Leider dauert es ein paar Tage bis Wochen, bis eine ausreichende Wirkung spürbar ist, und es braucht etwas Durchhaltewillen. Das gilt auch bezüglich möglicher Nebenwirkungen. Sie treten grundsätzlich nicht häufig auf und verschwinden oftmals nach ein paar Tagen wieder.
Wer auf die dunklen Wintertage oder schlechtes Wetter mit depressiven Gefühlen reagiert, dem empfehle ich ganz dringend den Einsatz einer Tageslichtlampe. Diese Lampen wirken sehr gut, sind nicht teuer und werden in der Schweiz sogar mit ärztlichem Attest von der Grundversicherung mitfinanziert. Wichtig ist, dass die Lampe eine ausreichende Beleuchtungsstärke aufweist (ich empfehle 10 000 Lux), die üblicherweise empfohlene halbe Stunde, die sie täglich eingesetzt werden soll, reicht sonst bei weitem nicht aus.
Bei den Entstehungsmechanismen einer Depression geht die Wissenschaft von genetischen Komponenten, das heisst von vererbten biologischen Einflüssen, aus und von psychologisch belastenden Lebenssituationen. Niemand kann also etwas dafür, an einer Depression zu erkranken.
Wer in einer solchen Situation von unsensiblen Menschen umgeben ist und sich womöglich noch Vorwürfe anhören muss, dem empfehle ich folgendes leider nicht belegte Zitat von Sigmund Freud: «Bevor du dir selbst Depressionen oder Minderwertigkeitskomplexe diagnostizierst, stelle sicher, dass du nicht einfach von Arschlöchern umgeben bist.»
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