Todkranke Mutter (Teil 3 von 3)«Mis Läbe mit eu, schön isch es gsi»
Von Sulamith Ehrensperger
9.6.2021
Wanda hat Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Sie möchte ihren Kindern über ihren Tod hinaus etwas mit auf den Lebensweg geben. Wie ihre Stimme weiterlebt.
Von Sulamith Ehrensperger
09.06.2021, 06:50
09.06.2021, 10:59
Sulamith Ehrensperger
Oliver hat vor einem halben Jahr seine Frau verloren. Seine beiden Kinder, 11 und 13 Jahre alt, ihre Mutter. Und doch weilt Wanda noch immer bei ihrer Familie. Mit ihrer Stimme.
Sie hat einen Hörschatz aufgezeichnet, eine Audiobiografie mit Erinnerungen, Liebes- und Lebensbotschaften an ihre Kinder. «Mis Läbe mit eu, schön isch es gsi» – so beginnt Wandas Hörbuch. «Meine Stimme soll nicht in Vergessenheit geraten, wenn ich mal nicht mehr da bin.» Die 42-jährige Mutter leidet bei den Aufnahmen an Magenkrebs im fortgeschrittenen Stadium und weiss, dass sie bald gehen muss.
«Als meine Frau keine Möglichkeit auf Heilung mehr sah, war es ihr Wunsch, ihre Stimme aufzuzeichnen», sagt ihr Mann Oliver. «Sie selber hatte ihren Vater relativ früh verloren und hatte mit der Zeit immer grössere Mühe, sich an seine Stimme zu erinnern.» Die Stimme sei das, was am schnellsten vergessen geht, sagt Wanda immer mal wieder zu ihrem Mann. Als ihr dann die Ärzte anvertrauen, dass sie wahrscheinlich nur noch ein paar Wochen leben wird, beschliesst sie, eine Audiobiografie aufzuzeichnen.
Drei Tage lang dauern die Aufzeichnungen, die Franziska von Grünigen vom Verein Hörschatz mit Wanda aufnimmt. Kapitel um Kapitel entsteht ein intimes zehnstündiges Hörbuch. Wanda erzählt aus ihrem Leben, von Glücksmomenten und Tiefflügen und sie spricht auch über Lebensthemen, die ihre beiden Kinder wohl einst bewegen werden.
Seit ihrem Tod hört Oliver Stückchen für Stückchen in den Hörschatz rein. «Ich erlebe dabei eine emotionale Achterbahn». Es seien Momente voller Glück, auch solche die ihn zum Lachen bringen. «Wenn sie ihre Version erzählt, wie wir uns kennengelernt haben.» Er erlebe aber auch ganz emotionale Momente, solche mit vielen Tränen. «Wenn sie direkt mit mir spricht und sagt, was sie mir wünscht, und dass sie mich liebt.»
Über den Verein Hörschatz
zVg
In eigenen Worten erzählen unheilbar erkrankte Menschen ihren Familien, was ihnen wichtig ist, was von ihnen bleiben soll. Mit dieser sehr persönlichen Audiobiografie, einem Hörschatz, hinterlassen früh verstorbene Eltern ihren minderjährigen Kindern eine bleibende Erinnerung. Der Verein Hörschatz vermittelt Audiobiografien an betroffene Familien und organisiert die Finanzierung durch Spendengelder und Fundraising.
Durch die Stimme sei ihm seine Frau sehr nahe. «Besonders vermisse ich sie, wenn ich sie höre und dabei Fotos anschaue.» Trotz des Schmerzes, die diese Momente auslösen, der Hörschatz helfe ihm beim Trauern. «Das ist Trauerbewältigung, die wichtig ist, um irgendwann weitere Schritte ohne sie machen zu können.»
Vor zwei Monaten fragte seine Tochter plötzlich wieder nach dem Hörschatz. «Sie hat allein zwei, drei Kapitel über die Kindheit meiner Frau gehört und uns dann erzählt, was sie erfahren hat.» Auch sein Sohn, der zwei Jahre jünger ist, wollte die Stimme seiner Mutter hören. «Ich wählte für ihn ein Kapitel über Wandas Lebensgewohnheiten und mit Ermutigungen, die sie an uns richtet. Das ging ihm sehr nahe. Es war für ihn, wie wenn seine Mami direkt zu ihm gesprochen hätte.»
Zwei Jahre lang hat Wanda gegen den Krebs gekämpft. Im Februar dann sagten die Ärzte, dass ihr wohl nur noch wenige Wochen blieben. Sie konnte nicht mehr essen, wurde künstlich ernährt. «Und doch hat meine Frau fast noch ein ganzes Jahr durchgehalten und all dieses Leiden und diese Opfer auf sich genommen», erinnert sich Oliver. «Es war aber auch eine sehr schöne gemeinsame Zeit. Für uns ein riesiges Geschenk».
Nicht nur für die Kinder, auch für Wanda war es tröstend, einen solchen Hörschatz hinterlassen zu können. Im letzten Kapitel sagt sie über ihre Aufnahmen: «Ich konnte mein Leben reflektieren und seine Einzigartigkeit und Schönheit erkennen, was mich sehr berührte und glücklich machte.»
Im ersten Teil der blue News-Serie erzählt der krebskranke Remo über seinen Hörschatz und den bevorstehenden Abschied von seinen beiden Kindern. Im zweiten Teil der Serie kommen die beiden Hörschatz-Gründerinnen zu Wort.
Du möchtest das Projekt Hörschatz unterstützen? Neben einer Direktspende gibt es die Möglichkeit per Crowdfunding zu spenden. Damit können schwerstkranke Eltern für ihre Kinder kostenlos einen Hörschatz aufnehmen.