Lebensbedrohliche PsychoseSimon Hofer: «Mein Leben hörte auf zu existieren»
Simon Hofer
11.10.2018
Der Berner Simon Hofer ist ein erfolgreicher Werber. Der Weg des 43-Jährigen zum Erfolg war mit vielen Problemen gepflastert. Als junger Mensch verlor er den Halt und driftete in eine Psychose ab.
In seinem autobiografischen Buch «Und jetzt erst recht», dass diese Woche erschienen ist, zeichnet Simon Hofer seinen Lebensweg akribisch nach: Im Übergang zum Erwachsenenalter verlor er den Halt, driftete in eine schwere Psychose ab. Nach kräftezehrendem Ringen mit Rückschlägen, die beinahe tödlich endeten, kämpfte er sich zurück ins Leben.
Im Buch erzählt Hofer, wie er seine psychischen Probleme mit Kreativität in Erfolg umwandelte. Und er gibt Tipps, wie sich Menschen von Blockaden und psychischen Problemen befreien können. Er sieht sich als Botschafter für Menschen mit Angststörungen und depressiven Verstimmungen bis hin zur Psychose. Das Buch hält zudem einen Ratgeberteil bereit.
«Bluewin» publiziert das gekürzte Kapital «Klinikaufenthalt» als exklusiven Vorabdruck – plus können die Leserinnen und Leser am Ende der Geschichte das Buch zu einem vergünstigten Preis direkt beim Verlag bestellen.
Klinikaufenthalt
Ich war plötzlich mit einer Situation konfrontiert, die mich innerlich erstarren liess. Als 21-jähriger junger Mann war ich gestrandet in einem Umfeld von Alkoholikern, Depressiven, psychisch Kranken und Schizophrenen. Es war, als spielte ich im Film «Einer flog über das Kuckucksnest» mit Jack Nicholson die Hauptrolle. Damit wollte ich so gar nichts zu tun haben. Mein Innerstes sträubte und wehrte sich.
Schon im Ford Fiesta meiner Mutter auf der Fahrt nach Münchenbuchsee starrte ich nach draussen und wiederholte verzweifelt die Worte meiner Tante, dass alles gut kommen werde. Ich habe immer eine enorme emotionale Abhängigkeit gegenüber meiner Mutter gespürt und in diesem Moment war die Abhängigkeit ganz besonders stark vorhanden. Gerade auch in diesem Augenblick, weil mein Vater einmal mehr nicht für mich oder für sie da war. Sie musste neben der Mutter- auch die Vaterrolle übernehmen. Zu dieser Zeit war unsere Bindung eng und beengend. Einerseits war ich auf ihre Hilfe angewiesen, andererseits war mir ihre Nähe zu viel. Ich wollte mich lösen. Wollte kein Kind mehr sein. Selbstständig. Erwachsen.
Als wir in Muri auf die Autobahn und dann via Bern nach Münchenbuchsee fuhren, lief alles wie im Film ab. Ich weiss noch, wie wir in die Parkanlagen gefahren sind. Wir sind dort ausgestiegen und ich stand verwirrt beim Auto. Widerwillig schleppte ich mich zum Klinikgebäude. Ich musste an der Rezeption meine Personalien abgeben und einen Zettel unterschreiben. Wir sollten uns setzen, hiess es, und meine Mutter hat den Rucksack mit den Kleidern getragen. Mein Herz schrie. Ich wollte flüchten, wusste aber nicht, wohin. Eine Ärztin tauchte auf, begleitet von einer weiteren Frau mit langem krausem Haar. Sie sah für mich aus wie eine Hexe. Aber eine sympathische Hexe. Eine Art indianische Medizinfrau.
Wir gingen zusammen in einen kleinen und engen Beratungsraum. Es hat sich dann schnell herausgestellt, dass die Frau meine persönliche Betreuerin werden würde. Sie wurde mir als eine Psychiatriepflegerin vorgestellt, die mir zu meiner Unterstützung zugeteilt wurde. Die Ärztin fragte mich, ob ich Stimmen höre oder vielleicht eine spezifische Musik. Sie wollten zudem von mir wissen, ob ich visuelle Fremdwahrnehmungen hätte, ich also Dinge sehe, welche nicht wirklich da waren. Ich verneinte. Aber ich versuchte ihnen zu erklären, dass ich eine extrem dünne Haut hätte und eine wahnsinnige Angst verspüre. Todesangst. Ich ergänzte meine Ausführungen damit, dass mir die medizinische Indianerin sehr sympathisch sei und zeigte auf die Dame mit den braunen Locken. Sie lächelte.
Es war in der Tat so, dass ich nie Fremdwahrnehmungen hatte. Halluzinationen oder Wahnvorstellungen waren mir bis dahin völlig fremd. Dafür hatte ich ständig Ohrwürmer. Ich konnte diese Musik nicht mehr abstellen. Es war mühsam, da ich sie gegen meinen Willen hörte. Zwanghaft musste ich diese Lieder ständig summen. Ich konnte es nicht kontrollieren. Oder ich sah Texte und musste diese innerlich automatisch vorlesen. Buchstabenreihen zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Es war wie ein Druck, gegen den ich nicht ankommen konnte. Ich war auch nicht fähig, mich davon zu lösen. Es war wie eine geisterhafte Fokussierung auf alles, was textlich vor meine Augen kam. Meine Augen hielten die Texte mit aller Kraft fest und ich konnte sie nicht loslassen. Alle Informationen flossen ungefiltert in mein Gehirn. Die Buchstaben tanzten vor meinen Augen, die alten Songs hämmerten in meinem Kopf. Verzweifelt summte ich «... like a Rolling Stone».
Wir wurden in einen länglich-rechteckigen Raum geführt, der durch die heruntergelassenen Rollos bereits verdunkelt war. Es herrschte eine trockene Spitalatmosphäre. Unheimlich und kühl. Dieses Zimmer sei nun mein Zimmer, hiess es. Ich konnte überhaupt nicht klar denken, was nun mit mir passieren würde. Meine Angstzustände waren so präsent wie noch nie. Die Pflegerin wollte mich offenbar mit meiner neuen Umgebung vertraut machen und wich nicht von meiner Seite. Meine Mutter, dicht hinter mir, nahm ich gar nicht mehr wahr. Ich lief einen langen Gang entlang, auf der rechten Seite passierte ich das Stationsbüro. Die Ärzte und Pfleger liefen geschäftig rein und raus.
Die anderen Eingänge waren offensichtlich die Patientenzimmer. Ganz am Ende des Raumes lief ein Fernseher. Davor sassen ein paar komische Figuren in Bademänteln. Unrasiert. Ein paar der Gestalten liefen etwas irritiert durch den Gang. Ich wurde schlussendlich von meiner Pflegerin durch den Gang und in einen grösseren Raum geführt.
Dort sassen bereits ganz viele Leute drin. Ich kam mir vor wie ein kleines, fünfjähriges Kind, das splitternackt diesen Leuten etwas vorsingen müsste. Wie bei einer Vortragsübung, nur tausendmal schlimmer. Man hieß mich hinzusetzen und etwas zu essen. Ich konnte aber nichts schlucken, konnte kaum mehr gehen. Mein Körper war willenlos. Kraftlos. Während einer Psychose ist der Bewegungsapparat eingeschränkt, da man nicht klar denken kann. Ohne Denkleistung wird jeder Schritt zur Qual, da die Impulse vom Gehirn an die Arme und Beine fehlen.
Es gab verschiedene Stationen respektive Häuser in der Klinik, und ich befand mich im Trakt mit dem Namen Johann Kaspar Haus. Die Station war wie ein kleines Dorf im Dorf. Als ich ankam, wurde in diesem Trakt gerade gegrillt. Der Geruch von fettigem Fleisch lag in der Luft. Hier war ich also. Meine Mutter liess leise verlauten, dass sie sich nun auf den Weg machen und sich später melden würde. Ich sass da in dem Raum, bei diesen Leuten, am Kopf des Tisches. Mit Mühe und Not konnte ich ein paar Bissen gegrilltes Schweinesteak runterschlucken, wäh rend mir stumm die Tränen über das Gesicht rannen.
Zwei lange Monate blieb ich im Johann Kaspar Haus in Münchenbuchsee. Während der ganzen Zeit dachte ich, dass mein Leben vorbei sei. Nie mehr würde ich diesen garstigen Ort verlassen. Nie mehr würde ich gesund werden, der momentane Zustand würde nie mehr aufhören. Mein Leben hörte auf zu existieren. Ich fühlte mich, als wäre ich in einem schlechten Traum gefangen und könnte nie mehr aufwachen.
Gestrandet. Verlassen. Am Ende. Weit weg.
Leserangebot
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