KolumneHört auf, euch ständig selbst optimieren zu wollen
Von Marianne Siegenthaler
16.8.2021
Dünner, schöner, gesünder, fitter, erfolgreicher, produktiver – ob privat oder im Beruf, es ist nie gut genug. Jeder optimiert, wo er oder sie nur kann. Dabei bleibt einiges auf der Strecke, findet die Kolumnistin.
Von Marianne Siegenthaler
16.08.2021, 00:00
Marianne Siegenthaler
Diesen Sommer hatten wir Glück. Zumindest, was das Wetter anbelangt. Es war nämlich derart kühl und verregnet, dass nur Hartgesottene im Badeanzug anzutreffen waren. Bikinifigur? Kein Thema. Wo es doch selbst das Sommerkleidchen oder die Shorts nicht aus dem Schrank geschafft haben.
Also bleiben uns wiederum rund neun bis zehn Monate Zeit, um dünner, straffer, muskulöser und fitter zu werden. Das wird hart. Denn gibt es etwas Langweiligeres als Krafttraining? Und nichts gegen eine Jogging-Runde, aber wenn man die Läuferinnen und Läufer so anschaut, dann kommt da nicht wirklich Freude auf.
Und vom Abnehmen wollen wir schon gar nicht reden. Aber das Schlimmste: Mit grösster Wahrscheinlichkeit werden wir scheitern. Wie jedes Jahr. Die Bikinifigur bleibt Wunschtraum.
Man muss nur wollen
Kein Wunder: Die Ziele, die wir uns setzen, sind unerreichbar.
Denn wir vergleichen uns nicht nur mit ein paar Verwandten, Freunden und Bekannten, sondern sozusagen mit der ganzen Welt. Dank Social Media wird uns ständig vorgehalten, was möglich ist – man muss nur wollen.
Heidi Klum, die kaum älter als ihr viel jüngerer Ehemann Bill aussieht.
Zur Autorin: Marianne Siegenthaler
Bild: zVg
Marianne Siegenthaler ist freie Journalistin, Texterin und Buchautorin. In ihrer Kolumne nimmt sie die grossen und kleinen, die schrägen und schönen, die wichtigen und witzigen Themen des Alltags unter die Lupe – mal kritisch, mal ironisch, mal mit einem Augenzwinkern. Sie ist verheiratet, hat eine erwachsene Tochter und lebt am Zürichsee. www.texterei.ch
Michelle Hunziker, deren Garderobe sich offenbar auf Bikinis beschränkt und die darin super schön aussieht. Dabei hat sie doch drei Kinder geboren, oder?
Und dann noch irgendwelche Selfmade-Millionäre, die bereits unter 30 nicht mehr arbeiten müssten.
Selbstoptimierung heisst die neue Religion
Jedenfalls fühlt sich der eine oder einer angesichts solcher Fotos und Storys – ob echt oder wohl eher bearbeitet – als Versagerin oder Versager. Das bestätigt auch eine Studie. Dabei haben Forschende Untersuchungen zu sozialem Vergleich und Zufriedenheit mit dem eigenen Körper untersucht.
Menschen, die ihr Aussehen stärker mit dem von anderen verglichen, waren eher unzufrieden mit ihrem Körper. Trotzdem. Statt aufzugeben, beissen wir die Zähne zusammen: Selbstoptimierung heisst die neue Religion, und dafür tun wir fast alles.
Wenn es aus eigenen Kräften nicht gelingt, dann schafft das die Botox-Spritze oder das Chirurgenmesser. Falls wir denn das nötige Kleingeld dafür haben.
Zu verbessern gibt es immer etwas
Der Selbstoptimierungswahn beschränkt sich aber längst nicht nur aufs Aussehen. Auch beruflich gibt es immer etwas zu verbessern. Wer sich nicht ständig weiterbildet, so heisst’s, bleibt auf dem Abstellgleis stehen. Wer nicht an seinem Netzwerk arbeitet, ist sowieso chancenlos. Und dann müssen wir ja noch an der Work-Life-Balance arbeiten.
Und natürlich können wir auch unsere Gesundheit optimieren. Indem wir nur alle zwei Tage etwas essen und zwischendurch so richtig schlechte Laune bekommen – aber das soll ja gut für den Blutdruck, den Fettstoffwechsel und so weiter sein. Oder wir nehmen Dinge zu uns, die wir gar nicht wirklich mögen, aber als gesund gelten. Dafür verzichten wir auf anderes. Brownies zum Beispiel. Denn die machen dick.
Das alles ist unglaublich anstrengend. Und ungefreut. Jeglicher Spass bleibt auf der Strecke. Will ich wirklich auf einen Halbmarathon trainieren, nur weil das andere in meinem Alter auch können?
Will ich mich mit Leuten herumschlagen, die ich nicht mag, nur um mein Netzwerk zu optimieren? Und soll ich irgendwelche Vegan-Kost essen, die zwar wahrscheinlich gesund ist, mir aber einfach nicht schmeckt?
Nein, fertig jetzt, habe ich mir gesagt. Ich höre mehr aufs Bauchgefühl oder ganz simpel ausgedrückt: Ich mache vermehrt das, worauf ich Lust habe. Und was mir Spass macht.
Allerdings muss ich daran noch arbeiten – es gibt da noch einiges zu optimieren…
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