«Unerfüllter Kinderwunsch», Teil 2«Frauen ohne Kinderwunsch werden oft infrage gestellt»
Von Sulamith Ehrensperger
5.11.2020
Frauen, die gewollt kinderlos bleiben, gelten als «unvollständig» und egoistisch, so einige der gängigen Vorurteile. Regula Simon nennt sie OK-Frauen. Ein Gespräch über unerfüllten Kinderwunsch und dessen Folgen.
Frau Simon, Frauen ohne Kinder nennen Sie OK-Frauen. O für «ohne», K für «Kind», aber auch, dass es okay ist, ohne Kinder zu leben. Sind auch Sie eine OK-Frau?
Ja, denn ein Stück weit ist es eine persönliche Geschichte, dass ich selber kinderlos geblieben bin. Ich habe den passenden Partner zu spät gefunden plus wollte der keine Kinder. Heute sage ich, es ist gut so. Ich glaube, ich bin zu lebenslustig, um meine Bedürfnisse fürs Muttersein zurückzustecken.
Wie gross erleben Sie den Leidensdruck von kinderlosen Frauen?
Eltern gelten in unserer Gesellschaft allein durch ihre Elternschaft als bessere Menschen. Freiwillig kinderlose Paare seien egoistisch, sagte einst Papst Franziskus. Wenn eine Frau keinen Kinderwunsch hat, wird sie infrage gestellt oder gar angegriffen, als Egoistin hingestellt, die nicht an die Zukunft der Gesellschaft denkt. Das hilft vielleicht ein bisschen zu verstehen, zu welcher Not es bei kinderlosen Frauen kommt.
Zur Person: Regula Simon
zVg
Regula Simon ist Coach und systemische Beraterin. Sie begleitet Menschen bei Prozessen der Persönlichkeitsentwicklung. Simon ist Autorin von «Kinderlos bleiben? Auch OK» und bringt auf der Webseite kinderfreilos.ch von Kinderlosigkeit betroffene Frauen zusammen.
Uns wird also ständig vor Augen gehalten, Kinder zu haben, sei ein Muss, um glücklich zu sein.
Ja. Die Gesellschaft ist so eingerichtet, dass Familien als schützenswert gelten und bevorzugt werden. Die meisten Frauen gehen davon aus, dass sie irgendwann eine Familie haben wollen. Wird ihnen dieser Wunsch verwehrt, fühlen sie sich sehr defizitär. Sie schlittern in eine Identitätskrise, schliesslich haben sie damit gerechnet, Mutter zu werden und das passiert nicht.
Die WHO erkennt die ungewollte Kinderlosigkeit als Krankheit an. Fühlen sich kinderlose Frauen krank?
Ich finde, es zementiert genau dieses Bild. Diese Frauen werden als körperlich krank bezeichnet und erkranken in der Folge auch psychisch. Was heute noch als Problem dazukommt: In der Gesellschaft herrscht die Vorstellung, dass die Reproduktionsmedizin dieses Problem löst. Viele unfreiwillig kinderlose Paare bekommen daher zu hören: «Wenn ihr wirklich Kinder haben wollt, lasst euch helfen.» Doch der Weg über die Reproduktionsmedizin kostet viel Zeit, Geld, teilweise auch Gesundheit und psychische Opfer sowie Einbusse der Beziehungsqualität und führt nur in einem Drittel aller Fälle zum Erfolg.
Glauben Sie, dass sich Männer leichter mit einer Kinderlosigkeit arrangieren können?
Manchmal ist der Mann sogar noch mehr betroffen, weil er den Kinderwunsch vielleicht stärker hegte als die Frau. Doch generell beobachte ich, dass Männer sich weniger schwertun oder vielleicht auch schneller weitergehen können. Das hat einerseits damit zu tun, dass die Frau durch die Menstruation jeden Monat wieder an ihre theoretische Gebärfähigkeit erinnert wird und damit auch der Schmerz wieder da ist. Ein anderer Punkt ist das Umfeld der Frau: Wenn sie mit anderen Frauen zusammenkommt, wird sie immer wieder mit dem Thema Kinder konfrontiert. Sie sieht dauernd, was ihr fehlt. Frauen, die Mütter sind, sind derart beschäftigt mit der Erziehung ihrer Kinder, dass es ein Dauerthema ist.
Wenn das Thema Kinder angesprochen wird, finde ich den Umgang der Leute damit teilweise übergriffig. Warum muss sich frau oft erklären? Ich wurde schon dreimal in einem Vorstellungsgespräch direkt gefragt, ob ich Kinder will.
Man geht davon aus, dass jede Frau Kinder will, weil das aufgrund ihres Geschlechts so ist. Aber die Frage nach Kindern ist kein Smalltalk, sondern eine sehr persönliche Frage. Beim Vorstellungsgespräch riskiert man wahrscheinlich, dass man die Stelle nicht bekommt, aber man kann antworten: «Diese Frage dürfen Sie mir nicht stellen.»
Was antworten, wenn frau im Privaten darauf angesprochen wird?
Ich finde, es kommt sehr darauf an, was man von sich preisgeben will. Es hilft sicher, ehrlich zu sein und sich zu fragen, was die Frage mit einem macht. Eine mögliche Antwort wäre, darauf aufmerksam zu machen: «Puh, das ist eine intime Frage.» Je nachdem, wie wichtig einem der Mensch ist, der das fragt, sagt man vielleicht auch: «Wir hätten gern Kinder, aber es hat nicht geklappt.» Die Gefahr ist, dass dann ganz viele Tipps folgen, weil alle zu wissen meinen, wie man Kinder macht.
Was hilft unfreiwillig kinderlosen Paaren?
Ganz einfach: Anteilnahme und Gesprächsbereitschaft signalisieren. Es hilft, ein offenes Ohr zu haben, und wenn man informiert ist, über Mythen und Fakten Bescheid weiss. Wichtig ist auch, dass man die Trauer respektiert und Verständnis aufbringt, wenn der Kontakt zu Freundinnen mit Kleinkindern manchmal eine Weile lang nicht mehr möglich ist. Wenn es ein Paar geschafft hat, sich vom Kinderwunsch zu verabschieden, ist das ein riesiger Schritt, den man einfach akzeptieren sollte.
Wie schafft es eine ungewollt kinderlose Frau, sich von ihrem Kinderwunsch zu verabschieden?
Das hängt davon ab, welche Haltung ich habe. Für mich ist der Schlüssel, den Kinderwunsch mal genauer anzuschauen. Jeder Kinderwunsch ist anders, jedes Paar erhofft sich vom Elternsein etwas anderes. In den Coachings gehen wir der Frage nach: Welche Qualität hätte dieses Kind oder das Muttersein in das Leben gebracht? Welches Bedürfnis hätte das Kind erfüllt? Dort gilt es, in die Tiefe zu gehen, um das Bedürfnis, das man zu wenig erfüllt erlebt, zu verstehen. Mit diesem Wert kann man arbeiten und ihn in seiner Entwicklung unterstützen. Ich erlebe bei den meisten, dass es gut wird.
Was sagen die Frauen, welche Bedürfnisse nennen diese Frauen?
Zum Beispiel: «Ich möchte dazugehören, einen Teil der Gesellschaft sein, so sein wie alle anderen.» Ich erlebe auch Frauen, die nach der Daseinsberechtigung fragen, wenn sie kein Kind auf die Welt bringen und grossziehen. Darf ich überhaupt da sein und leben?
Wie schaffen es die Frauen wieder zurück in ein zufriedenes Leben?
Sich von dieser Identität, die man sich erhofft hat, zu lösen, und sich auf die Suche nach einer anderen Identität zu machen. Weiss man, um welchen Wert es geht, kann man alles unternehmen, um diesen zu vermehren und ihm im Alltag zum Durchbruch zu verhelfen. Das beginnt mit ganz kleinen Veränderungen, die auf den ersten Blick nichts mit dem Kinderwunsch zu tun haben. Aber diese Veränderungen bewirken, dass die Frauen ihren eigenen Weg gehen. Sie merken, dass es nicht der Weg als Mutter ist. Sie gehen einen anderen Weg, der auch ihrer ist. Denn frau kann auch ganz Frau sein, ohne Mutter zu sein.
Serie «Unerfüllter Kinderwunsch»: Der erste Teil, ein Interview mit einem Reproduktionsmediziner, erschien am 30. Oktober bei «blue News».