Skandal um Holocaust-BuchErst Hymne, dann Hass – die Zerfleischung eines Bestellerautors
Bruno Bötschi
5.2.2019
Lange hat kein Roman mehr die Literaturkritiker so erzürnt wie Takis Würgers «Stella». «Bluewin»-Redaktor Bruno Bötschi hat das Holocaust-Buch gelesen. Er wollte wissen: Ist der Verriss berechtigt?
Auf der Internetseite des Autors steht geschrieben: «Takis Würger schreibt Romane für den Hanser Verlag und arbeitet als Redakteur für den Spiegel.» – Das stimmt nicht ganz: Würger schrieb bisher zwei Romane; «Der Club» erschien 2017 bei Kein&Aber, «Stella» kürzlich bei Hanser.
Was hingegen stimmt: In seinem Leben als Literat muss Würger gerade erfahren, wie nahe Hymne und Hass sind. Nach seinem Erstling, dem Erfolgsroman «Der Club», kam jetzt der brutale Hammer.
«Stella», der zweite Roman von «Spiegel»-Redaktor Würger, wird von der Kritik zerzaust. Der einstige Shootingstar wird wüst beschimpft im Feuilleton.
«Deprimierend schlecht»
Man könne es nicht schönreden, schreibt «Die Zeit», Würgers Roman wolle leider nichts ausser krass und massenkompatibel geil sein.
Die «NZZ» titelt: «Ausgerechnet ein Edelverlag veröffentlicht diesen Nazikitsch, ein Machwerk der übelsten Sorte.»
«Würgers Roman ist deprimierend schlecht», urteilt Julika Griem, Direktorin des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen. Seine Machart sei schnell zu durchschauen: Ein heutiges Publikum abholen mit möglichst starken Reflexen.
Nun gut, wenn sich Kritiker schon fast kommandohaft auf ein Werk stürzen, egal, ob Buch, Film oder Musik, ist das durchaus mit Vorsicht zu geniessen. Schliesslich passiert das beim zweiten Werk von jungen, hochgejubelten Künstlerinnen und Künstlern mit schöner Regelmässigkeit. Die Schweizer Erfolgsautorin Zoë Jenny kann davon ein Lied singen.
Ich habe vor wenigen Tagen «Stella» gekauft und gelesen. Etwas mehr als 200 Seiten hat das Buch, es liest sich rasch, nach zwei Abenden war ich damit durch. Der Roman handelt von einer Romanze, die im Berlin des Jahres 1942 spielt, basierend auf der historischen Figur Stella Goldschlag; einer von der Gestapo zur Kollaboration gezwungenen Jüdin.
Goldschlag war in Berlin als «Greiferin» unterwegs, um untergetauchte Juden aufzuspüren. Für ihre Untaten büsste die Denunziantin nach dem Zweiten Weltkrieg mit Gefängnishaft, 1994 beging sie Suizid.
Der Vorwurf des Holocaust-Kitsches
Gut möglich, dass die Schärfe der Kritik mit dem Pathos in manchen von Würgers Sätzen zu tun hat. Sätze wie «Schweigen wurde meine Art zu weinen» tönen zuerst wahnsinnig klug, nein, durchdacht, geschliffen, um danach rasch zu zerplatzen – wie ein Kaugummi.
Sätze wie «Sie atmete einmal und lächelte ihr makelloses Lächeln. Ich meinte, den Puder auf ihrer Haut zu riechen» bringen dem Autor gar den Vorwurf ein, Holocaust-Kitsch geschrieben zu haben. Denn beim Thema Kollaboration und Denunziation von Juden während der NS-Verfolgung fordern Kritiker einen hohen Anspruch an Authentizität und historischer Information.
Würger sagt dazu in einem Interview mit dem Berliner «Tagesspiegel»: «Ich glaube jeder Autor, der eine fiktive Liebesgeschichte schreibt, die im Berlin des Jahres 1942 spielt, ist sich bewusst, dass dieser Stoff sensibel behandelt werden muss.»
Und weiter: «Wenn so ein naiver Erzähler wie dieser Friedrich in meinem Roman neben der Frau, die er liebt, im Bett liegt, und Sätze sagt, die manche Leute kitschig finden, finde ich das in Ordnung. Zu Ihrer Frage, ob man es anders hätte schreiben können: Für mich war das die richtige Sprache.»
Seltsam konstruierte Geschichte
So schillernd, so schaurig. Würger schreibt geschliffen, manche würden behaupten: gestelzt. Das war schon bei seinem Erstling so, den ich auch gelesen habe. Nur, damals war das Thema nicht so heikel. «Der Club» ist wie eine Mischung zwischen Thriller und Campus-Roman geschrieben.
Ungut am Roman «Stella» ist zudem, dass ein deutscher Autor zu erklären versucht, wie schlimm der Holocaust war. Vor allem deshalb, weil er dazu eine seltsam konstruierte Geschichte verwendet: Ein (neutraler) Schweizer, der im Berlin des Jahres 1942 (!) Ferien und das Nachtleben geniessen will, verliebt sich unsterblich in Stella.
Bleibt die Frage: Wie wir die Erinnerungen an den Holocaust bewahren, ohne ihn umzudeuten oder zu banalisieren? Der Israeli Yishai Sarid schrieb darüber den Roman «Monster». Ihm war es wichtig, sich mit dem historischen Sujet keine Freiheiten zu erlauben: «Man darf nichts hinzudichten», erklärte er kürzlich im «Spiegel». Deshalb spielt Sarids Roman in der Gegenwart.
Übrigens: Nachdem bisher vor allem die literarische Qualität von «Stella» kritisiert wurde, tauchten Ende letzter Woche weitere Probleme auf. Würgers Roman könnte laut «Der Zeit» zum Gerichtsfall werden. Ein Berliner Anwalt fordert vom Hanser Verlag im Namen der Erben, das Buch nicht weiter zu vertreiben.
Coco – der Engel aus Bern, den die Welt nicht verstand:
Coco – der Engel aus Bern, den die Welt nicht verstand
Performance-Künstlerin, selbstbekennende transsexuelle Anarchistin, Macho-Frau, seelisch Heimatlose, Model, Lieblings-Zielscheibe der Schweizer Boulevardpresse – Coco.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Olivier G. Fatton begegnete Coco im November 1989 zum ersten Mal. Dieser «lichte und doch so schwermütige Engel» faszinierte den Fotografen vom ersten Moment an.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Bei einem Kaffee in einem Berner Schwulenlokal schliessen sie einen fotografischen Vertrag: Coco posiert für ihn und dafür dokumentiert Fatton ihre Geschlechtsanpassung.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Aus dem Pakt wurde eine Liebesbeziehung, in deren Verlauf Fatton zahlreiche Aufnahmen von Coco machte. Intime Porträts, ...
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
... inszenierte Modefotografie, zuhause, unterwegs, in Clubs und in den Bergen zeigen die zahlreichen Facetten der schillernden Coco.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Und immer wieder diese grossen, melancholischen Augen. Ihre Augen seien ihr zweiter Mund geworden, sagte Coco einmal.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
Und weil ihre tausendseitige Autobiographie von Dieben gestohlen wurde, erzählen uns diese Augen vom Leben einer Kameliendame des 20. Jahrhunderts – im Bildband «Coco», der dieser Tag erschienen ist.
Bild: Olivier G. Fatton, «Coco», Edition Patrick Frey, 2019
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