Sexuelle Übergriffe«Er sass in eindeutiger Pose am Schreibtisch»
Von Julia Käser
4.12.2020
Vier von fünf Schweizer Bühnenkünstler*innen erleben sexuelle Übergriffe. «Wahrscheinlich hätte ich viel mehr Erfolg gehabt, wäre ich ‹nett› und ‹unkompliziert› gewesen gegenüber einflussreichen Personen», sagt Schlangenfrau Nina Burri.
Die Liste der «Annäherungsversuche», die Nina Burri in ihrer Karriere erlebt hat, ist lang: Manager, angebliche Agenten, Produzenten, Direktoren von Film- und Tanzcompanys, Choreografen oder Fotografen – in fast allen Bereichen sei so etwas schon vorgekommen, sagt die Schlangenfrau.
Damit ist sie längst nicht alleine. Vier von fünf Bühnenkünstler*innen und Darsteller*innen haben innerhalb der letzten zwei Jahre einen sexuellen Übergriff erlebt. Das geht aus einer kürzlich publizierte Umfrage des Schweizerische Bühnenkünstlerverbands (SBKV) hervor. Besonders häufig ist es zu verbaler und körperlicher Belästigung gekommen. Täter waren in 81 Prozent der Fälle Männer, bei 9 Prozent handelte es sich um eine Täterin (Anm.d.Red.: Zu den restlichen zehn Prozent fehlt eine Angabe).
«Diese Umfrage ist wahnsinnig wichtig. Sie zeigt, dass sich auch hier etwas verändern muss und wir nicht nur mit dem Finger nach Amerika zeigen können», sagt Satirikerin Lisa Catena. Ihrer Meinung nach ist die MeToo-Bewegung zuletzt ausgefranst. «Im Grunde genommen geht es immer um Machtstrukturen, die missbraucht werden.»
Zur Erinnerung: MeToo geht auf Berichte über den Hollywoodmogul und mittlerweile verurteilten Sexualverbrecher Harvey Weinstein zurück und veränderte 2017 die Welt. Innert eines Jahres erschienen über 19 Millionen Tweets mit dem Hashtag #MeToo. Darin berichteten Frauen von sexuellen Übergriffen, Sexismus und Machtmissbrauch.
Einladung vom Direktor: «Es ging nicht um meine Leistung»
«Es gab viele Situationen, als Tänzerin und in jungen Jahren als Model, in denen Vorgesetzte oder Leute, mit denen man gearbeitet hat, in irgendeiner Form zu weit gegangen sind», erzählt Nina Burri.
Ein typisches Beispiel: Nach einem Vortanzen wurde Burri um 21 Uhr ins Büro eines Ballettdirektors bestellt – angeblich, um ihre Tagesleistung zu besprechen. «Er sass in sehr relaxter, eindeutig zur Schau stellender Pose seines besten Stücks am Schreibtisch und wollte mich nach der Besprechung noch zum Abendessen einladen.» Ihre Leistung oder das mögliche Engagement sei mit keinem Wort erwähnt worden.
Als sie freundlich geblieben, aber nicht auf seine Anspielungen eingegangen sei, sei der Mann kalt geworden – und abweisend. «Am nächsten Tag, im zweiten Teil des Castings, flog ich schnell raus. Der Balletdirektor würdigte mich keines Blickes mehr. Die Komplimente über mein Talent und Aussehen vom Vortag waren offenbar verpufft.»
Dabei handelt es sich keineswegs um einen Einzelfall. Es passiere bis heute, dass Männer unter dem Deckmantel von angeblichen Jobofferten oder Geschäftsideen einen Annäherungsversuch unternehmen, sagt die Kontorsionistin. «Oft erlebe ich, dass einer alles Mögliche verspricht, dabei auch sehr seriös klingt – man ahnt erst mal nichts Böses.»
Aus Frust über einen Korb werden Jobs abgesagt
Erhält sie auf die Frage nach den Kosten ihrerseits nur eine schwammige Antwort oder gar die Ankündigung, dass es sich um einen «Freundschaftsdeal» handelt, wird sie mittlerweile hellhörig. Es gehe nur darum, die Aufmerksamkeit der Künstlerin für sich zu gewinnen, erklärt Burri. Und unter Umständen sogar darum, eine gewisse Abhängigkeit aufzubauen. «Beispielsweise, wenn die Person weiss, dass ich ohne ihre Unterstützung einen Job nicht machen kann.»
Das Ganze geht dann so lange gut, bis Burri auf keine Avance eingeht. «Das böse Erwachen kommt, wenn ich strikt im Businessmodus bleibe oder deutlich wird, dass ich kein Interesse an der Person habe.»
Der sogenannte «Freundschaftsdeal» ende plötzlich mit dicken Rechnungen, die man so nie besprochen habe, und der ehemals gesprächige Geschäftspartner schicke Mitarbeitende vor. Noch schlimmer: «Es kann auch vorkommen, dass aus Frustration über den Korb versprochene oder bereits zugesagte Jobs abgesagt werden oder auf mysteriöse Weise nicht zustande kommen.»
«Es braucht mehr Frauen in Machtpositionen»
Laut Lisa Catena ist das Problem tiefgreifend: «Auf der Bühne gibt es viele Frauen, aber sobald man sich in den ‹Machtpositionen› wie Regie oder bei den Geldgebern umschaut, trifft man fast nur auf Männer.» Um Künstlerinnen besser vor Übergriffen zu schützen, brauche es mehr Frauen in Machtpositionen, ist die Satirikerin überzeugt.
Aber auch auf der Fernsehbühne bestehe eine Ungleichheit. «Die Heute-Show, die Anstalt oder Schlachthof – das sind die relevanten Kabarettsendungen, wo es um Meinungsmache geht, moderiert werden sie durchs Band von Männern.» Das sei auch beim SRF nicht anders. «Die ‹grossen Kisten› wie Late-Night-Shows sind eindeutig in Männerhänden», stellt Catena fest.
In ihren Augen kommt den Redaktionen von Fernsehen und Radio eine Schlüsselrolle zu. «Gerade von öffentlich-rechtlichen Anstalten wie ZDF, ARD oder eben auch SRF kann man erwarten, dass sie die Bevölkerung repräsentativ abbilden», sagt Catena.
Künstlerinnen und Künstler seien bereit, für ihre Karriere weit zu gehen – und deshalb besonders anfällig für Machtmissbrauch. Will man diesen bekämpfen, müsse man auf der Besetzungscouch ansetzen. Entscheidend seien die Auswahlgremien. «Diese sollten an sich selbst den Anspruch haben, möglichst divers zu sein.»
«Hätte mehr Erfolg gehabt, wäre ich immer ‹nett› gewesen»
Für Catena ist fraglich, ob die Entrüstungswelle, die 2017 um die Welt rollte, langfristig etwas an der Zusammensetzung solcher Gremien ändert. Damit sich tatsächlich etwas bewege, brauche es einen anhaltenden Druck – das gelte für verschiedene Branchen. «Seit 20 Jahren wird davon gesprochen, dass es mehr Frauen in Vorständen, als Professorinnen an den Unis und in der Politik braucht, geändert hat sich seither aber nicht viel.»
Entscheidend sei nicht zuletzt, so die Satirikerin, dass die Frauen dazu animiert würden, sich die Machtpositionen selbst zu holen. Und: «Dass man den Mut hat, es zu melden, wenn man einen Übergriff mitbekommt.» Es sei wichtig, dass die Verantwortlichen in jedem Fall zur Rechenschaft gezogen würden.
Dass es zuweilen Mut braucht, hat auch Nina Burri erfahren. «Vielleicht – oder sogar sehr wahrscheinlich – hätte ich im Laufe der Jahre viel mehr und schnelleren Erfolg gehabt, wäre ich auf gewisse Deals eingegangen, wäre ich ‹nett› und ‹unkompliziert› gewesen gegenüber einflussreichen Personen», sagt sie. Doch sie sei stets der Meinung gewesen, dass man es mit Talent und Verstand auch so schaffen kann.