Ex-Dompteuse Elvira Wegmann «Kein Tier greift grundlos an»

Von Fabienne Rüetschi

7.5.2018

Als «jüngste Dompteuse der Welt» wurde Elvira Wegmann in den 1980er Jahren von den Medien gefeiert. Der Circus Knie war an der Thurgauerin interessiert, eine Weltkarriere winkte. Aber sie blieb ihrer Heimat treu und hat der Manege den Rücken gekehrt.

Bluewin: Frau Wegmann, was mögen Sie lieber: Menschen oder Tiere?

Elvia Wegmann: Das ist eine gemeine Frage. Seit klein auf arbeite ich mit Tieren, fahre aber auch behinderte Kinder zur Schule. Mir liegen alle Lebewesen gleichermassen am Herzen.

Statt mit Puppen haben Sie als Kind mit Löwen- und Tigerbabys gespielt. Mit elf ritten Sie auf einem Tiger und spielten Handorgel dabei. Eine ziemlich verrückte Kindheit, oder?

Als Kind habe ich das nicht so wahrgenommen. Im Gegenteil, es war nicht einfach für mich. Ich bin bei meinen Grosseltern aufgewachsen, ihnen gehörte der Plättli Zoo in Frauenfeld. In der Schule waren die Stadtkinder und die Bauernkinder unter sich – ich war diejenige aus dem Dschungel, die Exotin. Sie nannten mich den «Plättli-Aff». Während andere zum Spielen oder für die Kinderdisco abmachten, musste ich im Zoo mithelfen. Ich hatte oft das Gefühl, Schuelgspänli fanden mich nur gut, weil sie sich einen kostenlosen Zoobesuch erhofften. Eine harte Zeit für einen Teenager. Erst später, habe ich realisiert, wie schön und aussergewöhnlich meine Jugend war. Ich habe Dinge erlebt, von denen die anderen nur träumen konnten – mit Raubkatzen «shöppelen» und «löielen» zum Beispiel.

Mit 18 präsentierten sie Ihre erste Raubtiershow im «Circus Plättli» in Frauenfeld. Die Medien feierten Sie als jüngste Dompteuse der Welt. Machte Sie das stolz?

Sehr. Bereits mit elf stand ich mit meinem Vater in der Manege. Mit 18 habe ich dann meine eigenen Tiere von meinem Grossvater bekommen. Löwen, Pumas, Leoparden, Panther und einen Tiger. Mit Grossvater als Lehrmeister habe ich meine eigene Show aufgebaut. Nach drei Jahren Lehrzeit, hat er mir die Tiere geschenkt. Klingt aufregend, war aber auch brutal. Denn vegane Raubkatzen gibt es keine, also musste ich sehr jung lernen zu töten. Vor allem Hühner, manchmal auch Hasen, mussten dran glauben, sonst hätten meine Tiere Hunger gehabt.

Später waren Sie auch im Tivoli-Park, im Circus Sarassani und Circus Krone in Deutschland in der Manege zu sehen. Träumten Sie von einer Weltkarriere als Artistin?

Nein, das war kein Thema für mich. Auch wenn es Angebote von grossen Namen wie Circus Knie, Circus Roncalli in Deutschland oder aus Monte Carlo gab. Klar, es hat mich schon gejuckt und manchmal auch nachdenklich gestimmt. Aber ich war sehr jung, meine Tiere konnte ich nicht einfach einpacken und verreisen. Ein Zirkus engagiert ein fixfertiges Produkt. Mit 18 hätte ich also einen Lastwagen, je einen Anhänger für die Tiere und Requisiten, einen Tiefkühler für das Fleisch, einen Wohnwagen und ein Auto gebraucht. All das konnte ich mir schlichtweg nicht leisten. Und fast noch wichtiger: Ich brauchte einen Partner ausserhalb der Manege, der mich auf der Tour begleitet hätte. Der dort genau hinschaut, wo ich keine Augen habe.

Angebote für eine Weltkarriere waren da. Blieb kein Traum unerfüllt?

Doch. Ich wollte Siegfried und Roy in Las Vegas im Mirage erleben. Das habe ich leider nie geschafft, weil ich einfach keine Zeit hatte zum «herumtingeln». Meine Tiere waren immer wichtiger.

Ein Leben als Dompteuse in der Manege klingt schillernd und glamourös. Gab es auch Schattenseiten?

Klar, es gab nicht nur Schminke, Glitzerkostüme und Scheinwerferlicht. Misten, füttern, Fleisch vom Schlachthof holen und selber Metzgen, diese Arbeiten füllten meinen Tag aus. Die 10 bis 15 Minuten in der Manege waren mein Dessert. Und ob 2, 200 oder 500 Menschen im Publikum sassen, war mir egal. Ich habe das immer nur für meine Tiere gemacht und das Dessert voll ausgekostet. Und es musste alles finanziert werden. Reich ist mit Tieren noch niemand geworden.

Der Circus Knie und auch viele anderen Zirkusse zeigen heute keine Wildtier-Nummern mehr. Finden Sie das gut?

Nein, das finde ich nicht gut und stimmt mich traurig. Ich verstehe zwar die Beweggründe der Zirkusse. Sie möchten keine Konfrontationen mit den Tierschützern. Aber genau darum würde ich persönlich weiterhin Raubtier-Nummern zeigen und die Leute aufklären. Ich behaupte, dass 99 Prozent von denen, die gegen Tiernummern sind, gar nicht wissen, was dahintersteckt und wie mit den Tieren umgegangen wird. Sie sehen nur die 10 Minuten im Rampenlicht und die Wägen die vor dem Zirkuszelt stehen. Klar, schwarze Schafe gibt es, die gibt es überall. Und die möchte ich auch keinesfalls in Schutz nehmen.

In den letzten Wochen sorgten tödliche Biss-Attacken von Kampfhunden für Schlagzeilen. Auch Wildkatzen haben schon zugebissen. Hatten Sie immer das Gefühl, die Situation zu kontrollieren?

Kontrollieren ist das falsche Wort. Für beide Seiten ist es ein langjähriger Lernprozess, wie bei Eltern und Kindern. Eine klare Rangordnung ist dabei wichtig und muss zwingend eingehalten werden. Für eine Raubkatze ist der Wagen quasi sein Wohnzimmer. Kein Trainer würde einfach so den Wagen eines Raubtieres betreten, das ist ihr Gebiet, dort haben sie ihre Ruhe. Die Manege hingegen ist das Reich des Tiertrainers. Dort gelten seine Regeln. Gegenseitiger Respekt und Akzeptanz sind essenziell. Mit den Jahren lernt man Situationen richtig einzuschätzen und wie darauf zu reagieren.

Hat Sie je eines Ihrer Tiere attackiert?

Einen «Chräbel» habe ich von meinen Raubkatzen beim Trainieren oder «Shöppelen» schon ab und zu abgekriegt. Aber nie schwere Verletzungen. Da gehört sicher eine Portion Glück und sehr gute Lehrmeister dazu. Auch brenzlige Situationen gab es, aber nie ohne Grund. Kein Tier greift grundlos an. Lärm, Antipathie, ein Hexenschuss – es gibt viele Gründe warum ein Tier zubeisst. 90 Prozent aller Tierattacken sind meiner Meinung nach aber auf menschliches Versagen zurück zu führen.

1994 hat mich ein fremder Hund angefallen und mich am Mund mittelschwer verletzt. Warum der Hund zubiss, weiss ich nicht. Vielleicht hat sich das Tier durch einen Knall oder ein Fahrzeug erschrocken und ich war zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort.

Es gibt Leute, die halten Raubkatzen als Stubentiere. Was finden Sie das?

Das ist Schwachsinn. Ich bin froh, dass dies in der Schweiz verboten ist. Wenn die Tiere klein sind, mag es herzig sein. Aber kommt etwa ein Löwe ins geschlechtsreife Alter, markiert er sein Revier anders als ein Büsi. Dann kann es für einen Besucher richtig gefährlich werden. Wenn das Tier diesen als Eindringling einstuft, wird er seine Besitzerin beschützen. Im schlimmsten Fall stürzt er sich auf die Person, was verheerende Folgen haben kann. Wenn man die Pranke einer ausgewachsenen Raubkatze erwischt, ist der Arm weg. Oder ein Biss ins Genick reicht und man ist ganz weg. Zudem ist es auch nicht sinnvoll, ein Tier alleine zu halten. Auch Hunde sind Rudeltiere und sollten meiner Meinung nach zu zweit gehalten werden.

Zirkusleute führen ein Nomadenleben, schlagen ihre Zelte immer wieder an neuen Orten auf. Sie leben seit Jahren in Frauenfeld im Kanton Thurgau. Sind Sie der sesshafte Typ?

Momoll, das bin ich. Es hat mich immer wieder nach Hause gezogen. Ich war zwar drei Jahre lang im Welschen, habe dort aber auf der Siky Ranch meiner Eltern das Restaurant geleitet, im Zoo gearbeitet und eine Papageienshow präsentiert. Egal, wo ich war, ich brauchte meine Familie und Tiere um mich herum. Und obwohl ich jahrelang mit Raubtieren zusammengearbeitet habe, bin ich ein «Schisser». Alleine durch Zoos, Wälder oder Dörfer zu spazieren, macht mir nichts. Aber nachts alleine durch Grossstädte oder Bahnhöfe zu laufen, das ist nichts für mich.

Zuletzt leiteten Sie mehrere Jahre das Landrefugium Sternenberg in Zürich, eine Art Alters- und Pflegeheim für Hauskatzen. Hatten Sie genug von den 300 Kilogramm schweren Raubkatzen?

Nein, das hat sich so ergeben, wie vieles in meinem Leben. Raubkatzen werden in der Regel wie Hauskatzen zwischen 12 bis 20 Jahre alt. Meine eigenen Raubkatzen sind mir also irgendwann weggestorben. So ist meine Show, die ich mir aufgebaut hatte, mit jedem Tier weniger, auseinandergebrochen. Eine Pyramide, die ich mit fünf Tieren einstudiert hatte, funktionierte mit drei Tieren nicht mehr. Mit 25 Jahren hatte ich aber auch Lust, ein neues Kapitel aufzuschlagen und etwas anderes auszuprobieren. Ich wollte erfahren, ob ich überhaupt was anderes kann und mich jemand einstellen würde. Ich habe für einmal nicht nur Zuhause, sondern auswärts gearbeitet, hatte andere Jobs, andere Chefs, nicht nur meine Familie.

Haben Sie ein Lieblingstier?

Meine Raubkatzen waren mir immer am liebsten. Sehr interessant war auch die Arbeit mit den Papageien. Was ich gar nicht mag sind Spinnen und Käfer – alles was kreucht und fleucht.

Heute betreiben Sie nebenbei einen Tierbetreuungsdienst und kümmern sich hauptsächlich um Katzen und Vögel. Oft sind Menschen mit ihren Tieren überfordert. Was macht Sie besonders wütend?

Wenn die Temperaturen jetzt langsam wieder gegen 30 Grad ansteigen und Leute über den Mittag mit ihren Hunden für einen Kaffeeklatsch stehen bleiben. Auf dem heissen Beton verbrennen sich die Hunde ihre Füsse. Oder wenn man einen Hund bei der Hitze im Auto lässt – das treibt mich zur Weissglut. Hunde sind sehr soziale Tiere und wehren sich nicht. Oder wenn ich in den Social Media Beiträge sehe, wie Tiere misshandelt werden oder sich Menschen an Tieren vergehen, da hängt es mir aus, das beschäftigt mich sehr.

Ob Raubkatze oder Papagei: Wie gewinnt ein Tierhalter das Vertrauen eines Tieres? Haben Sie konkrete Tipps?

Die Stimme ist ein sehr wichtiges Instrument. Auch bei Tieren gilt: Der Ton macht die Musik. Variieren Sie zwischen laut, leise, streng oder lieb. Insgesamt braucht es viel Geduld, Ruhe und vor allem gegenseitigen Respekt. Wenn man keine Zeit hat für ein Tier, sollte man auch keines halten. Ich bewege meine zwei Pekingesen Hunde am Morgen und am Abend je eine Stunde. Von Schoss- oder Taschenhunden halte ich nichts.

Seit ein paar Jahren sind Sie zurück im «Plättli Zoo» in Frauenfeld – jedoch nicht als Teil des Zoo-Teams. Sie führen das Restaurant. Brauchten Sie einen Tapetenwechsel?

Ich werde auch nicht jünger und wollte jobmässig sesshafter werden. Mit dem Circus bin ich zwar nicht gross rumgekommen, aber von 25 bis 50 Jahre war ich wie ein Streuner «auf der Leutsch». Etwa alle drei Jahre habe ich den Job gewechselt. Da kam einiges zusammen: Wirtin, Tierpflegerin im Plättli-Zoo, Mädchen für alles in einem Transportunternehmen oder Leiterin des Tierrefugiums Sternenberg in Zürich. Und wie ich bisher für fast alle meine Jobs angefragt wurde – ich habe bis heute kaum Bewerbungen geschrieben – war es auch diesmal so. Meine Tante, die das Restaurant bisher führte, möchte mit 70 kürzertreten.

Wenn Sie einen halben Tag Zeit hätten, welche Orte würden Sie mir in Ihrem Heimatkanton Thurgau zeigen?

Den Plättli Zoo natürlich (lacht). Dann würde ich mit Ihnen in die Kartause Ittingen gehen. Im ehemaligen Koster isst man sehr gut. Und selbstverständlich würde ich mit Ihnen mit dem Cabriolet am Bodensee entlangfahren, vom Rheinfall bis nach Güttingen. Wenn wir einen ganzen Tag Zeit hätten, würde ich noch auf den Stählibuck wandern, von dort aus hat man eine wunderschöne Bergsicht.

Plättli Zoo feiert 60. Geburtstag

Vom 1. bis 3. Juni feiert der Plättli Zoo in Frauenfeld seinen 60. Geburtstag mit vielen Attraktionen. Weitere Infos: plaettli-zoo.ch

Die Gesprächserie: «Wir sind die Schweiz»

Die Schweiz ist ein Land, in dem man gerne lebt, in dem fast alles funktioniert, manches sogar perfekt. In unserer Gesprächsserie «Wir sind die Schweiz» sprechen wir mit Menschen aus unserem Land über ihre Sicht auf die Heimat. Zuletzt sprachen wir mit Autorin Sybil Schreiber, Tänzerin Melanie Alexander, Comic-Zeichner Sven Hartmann und Jodlerin Nadia Räss.

Bilder aus der Schweiz
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