Erzählcafé-Mitbegründerin «Einer der Teilnehmer erzählte, wie ihm alles zu viel wurde»

Von Sulamith Ehrensperger

10.6.2021

Im Erzählcafé treffen sich fremde Menschen zu einem bestimmten Thema. Sie erzählen einander eigene Erfahrungen aus dem Leben.
Im Erzählcafé treffen sich fremde Menschen zu einem bestimmten Thema. Sie erzählen einander eigene Erfahrungen aus dem Leben.
Bild: Netzwerk Erzählcafé

Geschichten birgt das Leben viele. Nur werden sie viel zu wenig erzählt. Das findet auch Johanna Kohn, Mitbegründerin des Schweizer Erzählcafés. Was wir aus Lebensgeschichten anderer lernen können. 

Von Sulamith Ehrensperger

Frau Kohn, welche Erinnerungen verbinden Sie mit dem Erzählen?

Schon als Kind haben mich die Geschichten meiner Grosseltern völlig in Bann geschlagen. Wenn mein Grossvater erzählt hat, wie sie im Saarland auf einem Floss gefahren sind und sich ans Ufer retten mussten oder vom ersten Auto, das damals durch den Ort gefahren ist.

Was haben Sie von diesen Geschichten fürs Leben mitgenommen?

Sie haben mir gezeigt, wie sich die Welt verändert. Eigentlich habe ich alles, was mir von der Zeitgeschichte geblieben ist, von meinen Grosseltern gelernt – etwa über den Zweiten Weltkrieg oder die Judenverfolgung. Diese Erinnerungen geben mir einen Boden, es sind die Wurzeln für das, was ich heute bin. Auch das Interesse für Lebensgeschichten anderer Menschen ist geblieben.

Über Johanna Kohn 
Johanna Kohn
zVg

Johanna Kohn ist Professorin für Soziale Arbeit mit den Schwerpunkten Alter und Biografiearbeit. Sie entwickelte die Methode «Erzählcafé» für die Schweiz weiter, um Menschen mit ihren Lebensgeschichten zu Gehör zu bringen und um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Sie ist Mitbegründerin des Netzwerks Erzählcafé Schweiz.

Sie sind Mitbegründerin des Netzwerks Erzählcafés Schweiz. In moderierten Erzählrunden stehen dabei die Lebensgeschichten und Erfahrungen der Teilnehmenden im Zentrum. Sind Erzählcafés eine Art Speed-Dating des Erzählens?

(lacht) Es ist ein Dating, aber mit weniger Speed und in einer Gruppe. In Erzählcafés kommen Menschen miteinander ins Gespräch, die verschieden leben und die Welt unterschiedlich betrachten und die wahrscheinlich sonst nicht miteinander ins Gespräch gekommen wären. Deren Lebenserfahrungen sind so verschieden wie die Menschen, die sich zum Erzählen treffen.

Sie moderieren auch solche Erzählcafés. Welche Begegnung ist Ihnen besonders in Erinnerung?

Da kommt mir ein Online-Erzählcafé zum Thema «Lebensereignisse» in den Sinn. Einer der Teilnehmer erzählte, wie ihm alles zu viel wurde. Er packte seine Koffer, entdeckte Australien und Asien, die Fremdheit und das Abenteuer. In der Einsamkeit hat er plötzlich verstanden, dass die Schweiz der Ort ist, wo er zu Hause ist. Er ist zurückgekehrt und hat ein neues Leben angefangen. Ich staune immer wieder über solche Lebensgeschichten, die derart schwer wirken, zum Ende hin aber mit Leichtigkeit enden.

Was will denn eigentlich das Erzählcafé?

Es soll den Zusammenhalt und das Zuhören fördern. Und Menschen mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen zu Wort kommen lassen. Am Erzählcafé trifft die Tänzerin auf den Professor, der Geflüchtete auf die Unternehmerin. Das Besondere am Erzählcafé ist, dass alle in der Runde erzählen dürfen und gehört werden.

Manche denken bei Erzählcafés an Seniorentreffen.

Das ist ja ein schönes Vorurteil. Klar, wenn wir alt werden, resümieren wir, halten Rückschau auf unser Leben, von daher eignet sich diese Form des Erzählens für alte Menschen. Persönliche Geschichten aus dem Leben von Betroffenen jedoch sind ein Ausgangspunkt für Soziale Arbeit, Gesundheits- und Kulturförderung. Erzählcafés finden in der Schweiz etwa in Bibliotheken, Berufsbildungs- und Jugendzentren, Museen und anderen lokalen Treffpunkten statt. Oft verbindet das gemeinsame Quartier oder der Ort die Teilnehmenden. Übrigens gibt es Erzählcafés schon seit 1987, also lange vor Kommunikationsplattformen wie den sozialen Medien.


So funktioniert das Erzählcafé

So funktioniert das Erzählcafé

Wie ein Erzählcafé funktioniert.

09.06.2021


Die meisten posten ihre Erlebnisse in sozialen Medien. Hier muss ich nicht unbedingt Gesicht zeigen.

Es sind zwei unterschiedliche Medien. Bei den Erzählcafés erlebe ich die Atmosphäre im Raum und mein Gegenüber durch seine Körpersprache, die Haltung, die Gestik und Mimik. Das ist ein ganz anderes Körpergefühl, das bei den sozialen Medien fehlt. Mit einem Post stelle ich meine Geschichte ins Weltall und erhalte nicht wirklich eine befriedigende menschliche Antwort. Das Chatten über soziale Netzwerke kann doch sehr einsam machen. Erzähle ich in einer Runde, bin ich Teil dieser Gruppe. Auch Jugendliche sehnen sich nach dieser Art des Zusammenseins.

Dennoch: eine persönliche Geschichte live vor Publikum zu erzählen, ist wohl nicht jedermanns oder jederfraus Sache.

Über die Erzählcafés
Erzählcafé: Menschen erzählen sich ihre Lebensgeschichten
Netzwerk Erzählcafé

Vom 11. bis 13. Juni will das Netzwerk Erzählcafé Menschen ins Erzählen bringen. Die Erzählcafés finden an rund 80 verschiedenen Orten in allen Landesteilen statt. Die Teilnahme ist kostenlos. Das Netzwerk Erzählcafé Schweiz ist ein Kooperationsprojekt zwischen Migros-Kulturprozent und der Fachhochschule Nordwestschweiz. Die Vision: Erzählcafés in der ganzen Schweiz ermöglichen den Austausch unter Menschen aus verschiedenen Lebenswelten und stärken so den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Ja, es braucht Mut. Deshalb ist es wichtig, dass alle erzählen können, die mögen, und dass unterschiedliche Lebensperspektiven und Erfahrungen Platz haben. Es braucht dabei eine klare Führung durch die Moderation. Denn manchmal wecken Erinnerungen starke Trauer oder Wut. Manchmal entstehen bei Erzählcafés auch kleine Projekte, beispielsweise Orte im Quartier neu zu gestalten oder auch nur mal wieder einen Brief zu schreiben.

Solche offenen Gespräche haben wir während der Pandemie oft vermisst. Wie wirkt die Krise auf die Erzählcafés?

Im Moment erleben wir einen Boom. Erzählen ist wieder in. Auch die Wirtschaft konzentriert sich aufs Storytelling: In der Werbung wimmelt es nur so von Mini-Geschichten. Durch all die Veränderungen unseres Alltags sind wir heute stärker als früher aufgefordert, über Fragen nachzudenken wie: Wer bin ich? Wohin will ich?

Von seinem Leben, seinen Erlebnissen, seinen Ängsten zu erzählen, hilft über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen. Auch ein erster Schritt zur Veränderung eigener Lebensthemen?

Absolut. Das sind heilsame Nebeneffekte, etwa so, wie Sie einer Freundin von sich erzählen. Manchmal hilft es auch einfach zuzuhören und Platz zu machen für die Erfahrungen anderer. Dieser Respekt für unterschiedliche Sichtweisen ist ein messbares Kriterium für den Zusammenhalt in einer Gesellschaft. Ich glaube, wir alle haben eine Lebensgeschichte, die es wert ist, angehört zu werden.

Zu welchem Thema würden Sie gerne mal ein Erzählcafé moderieren?

(überlegt) Ich denke, so was wie ‹Sätze aus meinem Leben›.

Verraten Sie uns, welche Sätze Ihr Leben geprägt haben?

«Wer ein Menschenleben tötet, tötet eine ganze Welt. Wer ein Menschenleben rettet, rettet eine ganze Welt.»