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Bötschi fragt Botschafter Seger: «Das Peinlichste, was mir je passiert ist ...»
Von Bruno Bötschi, Berlin
9.7.2019
Er residiert seit zehn Monaten als Schweizer Botschafter in Berlin. Paul R. Seger spricht über die Streitkultur der Deutschen, erzählt von einem Gewissenskonflikt und verrät, wann er Heimweh verspürt.
Die Schweizer Botschaft in Berlin, die vor zwei Jahren 150 Jahre alt wurde, hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Während des Kalten Krieges war die Villa vorwiegend Generalkonsulat, danach Aussenstelle der Botschaft in Bonn.
Das Haus an der Otto-von-Bismarck-Allee befand sich im geteilten Berlin im Niemandsland, unmittelbar hinter der Botschaft verlief die Grenze. Nach dem Fall der Mauer erwachte die Villa aus ihrem Dornröschenschlaf.
Paul R. Seger lebt mit seiner Frau im Botschaftsgebäude, zwischen Kanzleramt, Reichstag und Berliner Hauptbahnhof. Angela Merkel arbeitet in Sichtweite. Schaut die Bundeskanzlerin aus dem Fenster ihres Arbeitszimmers, sieht sie im Osten die Schweizer Flagge.
Botschafter Seger, braun gebrannt und Fliege tragend, empfängt den Journalisten in seinem geräumigen Arbeitszimmer.
Herr Seger, wir machen heute ein Frage-Antwort-Spiel: Ich stelle Ihnen in der nächsten 30 Minuten möglichst viele Fragen – und Sie antworten möglichst schnell und spontan. Passt Ihnen eine Frage nicht, sagen Sie einfach «weiter».
Okay, legen Sie los.
Basel oder Berlin?
Beides.
Matterhorn oder Zugspitze?
Ich bin zwar ein Flachländler – aber ich sage Matterhorn.
Krawatte oder Fliege?
Fliege. Ich besitze keine einzige Krawatte – und Fliegen nur solche, die man selber binden kann. Fertig gebundene Fliegen trage ich keine. Das ist Ehrensache.
Wie kamen Sie zu Ihrem Markenzeichen, der Fliege?
Auf die Fliege bin ich in New York gekommen, als ich anfangs der 1990er Jahre bei der UNO arbeitete. Irgendwann fiel mir auf, dass alle Männer dort gleich angezogen waren – dunkler Anzug, weisses Hemd und Krawatte. Es sah aus wie eine Pinguin-Kolonie. Eines Tages sagte ich mir: Wenn ich schon ein Pinguin bin, will ich wenigstens ein bisschen bunter sein.
Sie waren schon auf der halben Welt zuhause. Wie definiert ein Botschafter Heimat?
In der Schweiz daheim, in der Welt zuhause.
Kennen Sie Heimweh?
Wenn ich Heimweh kennen würde, hätte ich den falschen Beruf gewählt. Ich gebe aber zu, dass ich die wenigen Male, an denen ich nicht an der Basler Fasnacht teilnehmen konnte, Heimweh verspürte.
Wie oft haben Sie «die drey scheenschte Dääg», wie die Basler ihre Fasnacht nennen, in den letzten 30 Jahren verpasst?
Dreimal.
Mittel gegen die typische 17-Uhr-Müdigkeit?
Diese Müdigkeit kenne ich nicht. Meine typische Müdigkeit kommt um die Mittagszeit – ich würde gerne Siesta machen. Leider ist das nicht möglich, weil ich um diese Zeit meistens auf Veranstaltungen bin.
Was tun Sie gegen die 12-Uhr-Müdigkeit?
Ich beisse mich durch.
Da soll noch einer sagen, Schweizer Diplomaten hätten keinen Humor.
Haben Sie schon herausgefunden, mit welcher Ausrede man sich am besten bei langweiligen Sitzungen entschuldigt?
Da gibt es einige – gut funktioniert: Mein nächster Termin ist total wichtig, ich muss sofort gehen.
Die härteste Arbeit, die Sie je mit den Händen getan haben?
Ich muss gestehen, ich bin nicht besonders geschickt mit meinen Händen. Die härteste Arbeit war wahrscheinlich der Bau einer Bauhütte für unsere zwei Söhne.
Finden Sie, dass Sie ein typischer Schweizer sind?
Mmh … was ist ein typischer Schweizer? Nein, ich glaube, ich bin keiner. Mein Vater ist Schweizer, meine Mutter kam als Ungarnflüchtling in die Schweiz. Meine Grosseltern sind väterlicherseits deutscher und französischer Herkunft. Die Mutterseite stammt aus der Donaumonarchie Österreich-Ungarn. Ich bin also eher eine europäische Promenadenmischung.
Sie sind seit August letzten Jahres Botschafter der Schweiz in Berlin. Welches waren Ihre ersten Eindrücke von Deutschland und den deutsch-schweizerischen Beziehungen?
Ich bin mit offenen Armen, Freundschaft und Wohlwollen empfangen worden. Wir Schweizer sind in Deutschland sehr beliebt. Die Beziehungen unserer beiden Länder sind ausserordentlich gut.
Wie bereitet man sich auf einen neuen Botschafter-Posten vor?
Normalerweise hat man sechs bis acht Monate Zeit dafür. In meinem Fall waren es jedoch nur acht Wochen. Im Eishockey würde man das einen fliegenden Wechsel nennen.
Ihre Berufung geschah in Windeseile, weil Ihre Vorgängerin Christine Schraner Burgener zur UNO-Sondergesandten für Myanmar ernannt worden war.
Nachdem klar war, dass ich nach Berlin gehen würde, fing ich sofort an, mich einzulesen. Jeder Botschafter, der seinen Post verlässt, muss einen Schlussbericht verfassen. Meine Vorgängerin tat dies ebenfalls, ihr Bericht war sehr ausführlich. Ich war zudem für eine Kurzvisite in Berlin, traf den deutschen Botschafter in der Schweiz, Norbert Riedel, und reiste für einen Regierungstag nach Bern – am jenem Tag traf ich Vertreter aus allen Bundesstellen, mit denen ich in Deutschland zu tun haben würde. Ich wurde einen Tag lang von früh bis spät gebrieft – am Abend rauchte mir der Kopf.
Norbert Riedel, Botschafter für Deutschland in der Schweiz, antwortet auf die Frage, wie er sich auf den Posten in Bern vorbereitet hat, wie folgt: «Indem man versucht, alle Klischees sofort über Bord zu werfen.»
Als Basler habe ich den Vorteil, dass ich schon in jungen Jahren oft mit Deutschland zu tun hatte. Ich habe deshalb das Gefühl, ohne Klischees nach Berlin gekommen zu sein.
Hat sich in den letzten zehn Monaten, die Sie nun in Berlin leben, Ihr Blick auf Deutschland verändert?
Die Polit-Kultur in Deutschland ist eine ganz andere als in der Schweiz. In Berlin wird mit deutlich härteren Bandagen politisiert, es wird gern Tacheles geredet. Ich schätze diese offene Streitkultur, viele Schweizer sind extrem harmoniebedürftig. Was mich überrascht hat, ist, dass es mit der Digitalisierung in Deutschland nicht zum Besten steht. Im Umland von Berlin gibt es nach wie vor viele Funklöcher.
Stimmt es, was man über Berlin sagt?
Was sagt man den über Berlin? (lacht) Es gibt den Ausdruck: Berlin ist eine Wolke. Den mag ich sehr. Ich finde, Berlin ist eine tolle Stadt. Ich habe insgesamt neun Jahre in New York verbracht. Für mich ist Berlin so etwas wie das New York von Europa. Es ist eine sehr junge Stadt, eine sehr künstlerische Stadt, manchmal ein bisschen anarchisch und chaotisch, mir gefällt es in Berlin wahnsinnig gut.
Wow, eine wunderbare Liebeserklärung an die deutsche Hauptstadt.
Man sagt, Schweizer und Deutsche seien sich sehr ähnlich. Wahr oder nicht?
In einigen Charaktereigenschaften sind wir uns sicher ähnlich – wir sind rechtschaffen, ordnungsliebend und pünktlich. Eine gewisse Ernsthaftigkeit ist uns ebenfalls gemeinsam. Aber es gibt auch Unterschiede zwischen den Deutschen und den Schweizern. Ich denke, diese lernt man erst kennen, wenn man im Land selber lebt.
Können Sie einen Unterschied nennen?
Der Umgangston in Deutschland, und ich rede jetzt nicht nur von der Politik, ist direkter als in der Schweiz. Geht man in Basel in ein Restaurant, wird man als Erstes begrüsst. Der Berliner hingegen kommt gleich zur Sache und sagt: «Ich krieg ein Bier.» Manch ein Schweizer fühlt sich durch solch schroffe Direktheit vor den Kopf gestossen, dabei meinen die Berliner das nicht böse.
Warum mögen die Deutschen die Schweizer lieber als umgekehrt?
Ich denke, das hat mit dem Phänomen «Grosser Bruder, kleiner Bruder» zu tun.
Ihre Erklärung dafür, warum der Schweizer so zurückhaltend ist und warum er sich gerne abgrenzt?
Ist dem wirklich so? Über ein Land, in dem 25 Prozent Ausländer leben, kann man doch nicht sagen, es schotte sich ab. Tatsächlich ist es aber so, dass wir Schweizer nicht so schnell auf fremde Menschen zugehen, wie das etwa die US-Amerikaner tun. Um mit einem Schweizer warm zu werden, braucht es Zeit. Wenn man ihn jedoch als Freund hat, ist dies eine ehrlichere und nachhaltigere Beziehung, als sie in den USA gepflegt wird – das ist meine Erfahrung.
Und trotzdem: Schweizerinnen und Schweizer geniessen viel Sympathien im Ausland. Weshalb?
Das «Trotzdem» können Sie in Ihrer Frage streichen. Als Botschafter ein Land wie die Schweiz vertreten zu können, ist eine einfache Sache. Kollegen aus anderen Ländern haben es ungleich schwerer. Warum? Das hat viel mit unserer Bescheidenheit zu tun. Wir Schweizer treten nicht grossmäulig auf, wir wollen nicht auftrumpfen. Ein wichtiger Punkt ist zudem unsere Neutralität. Sie bewahrte uns vor Expansionsgelüsten. Wir haben nie ein anderes Land erobert, haben keines kolonialisiert.
Was könnte Deutschland von der Schweiz lernen?
Die Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit der Züge.
Was passiert genau, wenn ein Botschafter «einbestellt» wird?
Es werden ihm die Leviten gelesen.
Wurden Sie während Ihrer Tätigkeit in Berlin schon einmal «einbestellt»?
Zum Glück noch nie.
Wie oft wurden Sie an Ihren vorherigen Botschafterjobs «einbestellt»?
Nie.
Etikette ist essenziell als Botschafter. Schon einmal gepatzt?
Oh ja! Das Peinlichste, was mir je passiert ist, war: Am Ende meiner Zeit als Botschafter im Fürstentum Liechtenstein wollte ich, so wie es Brauch ist, beim Landesherrn, dem Erbprinzen, einen Abschiedsbesuch machen. Ich fuhr nach Vaduz zum Schloss und klopfte an der Schlosstüre. Ein Diener öffnete und fragte, was mein Anliegen sei? Ich antworte, ich sei wegen des Abschiedsbesuchs da. Da sei ich aber eine Woche zu früh, antwortete der Diener leicht verdutzt. Er gehe jedoch schnell fragen, ob der Prinz trotzdem für mich Zeit habe.
Und hatte er Zeit?
Ja. Der Prinz zeigt viel Grandezza. Mir hingegen war mein Missgeschick total peinlich.
Zwischenstand: Das ist bisher ein sehr guter Auftritt des Botschafters. Frisch und mit Witz – und seine Antworten erstaunlich gehaltvoll und konzentriert
Sie sind seit 1986 im diplomatischen Dienst tätig: Welche Begegnungen waren weniger schön?
Zwei Treffen sind mir speziell in Erinnerung geblieben. Während der Geiselaffäre in Libyen, als Staatschef Muammar al-Gaddafi von 2008 bis 2010 zwei Schweizer Geschäftsleute als Geiseln genommen hatte, musste ich einmal nach Berlin reisen und eine ganze Nacht über deren Freilassung verhandeln.
Und die zweite Begegnung?
1996 reichten Holocaust-Überlebende die ersten Klagen gegen die Schweiz ein. Sie forderten unter anderem eine Entschädigung für nachrichtenlose Vermögen. Im meinem konkreten Fall ging es um die jüdische Familie Sonnabend, die während des Zweiten Weltkriegs zweimal von den Schweizer Behörden an die Grenze gestellt wurde – beim zweiten Mal wurden die Sonnabends vom deutschen Militär geschnappt und ins Konzentrationslager gesteckt. Dort wurde fast die ganze Familie von den Nazis ermordet. Herr Sonnabend forderte als einziger Überlebender von der Schweiz eine Genugtuung von 100'000 Franken. Die Sache kam vor das Bundesgericht, weil der Bundesrat die Zahlung ablehnte. Ich musste die negative Haltung der Behörden vor dem Bundesgericht vertreten. Das war ein sehr schwieriger Moment …
… weil Sie in einen Gewissenskonflikt gerieten?
Ja. Ich ging deshalb auf Herr Sonnabend zu und sagte zu ihm: «Ich muss hier und heute etwas vertreten, mit dem ich persönlich grosse Schwierigkeiten habe. Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen.»
Ihre Vorgänger im Amt hatten zum Teil mit schwierigen Dossiers zu kämpfen. Gerade zur Zeit des Steuerstreits waren die Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland angespannt. Wie sieht die Situation heute aus?
Thema Nummer eins, wenn es auch nicht direkt mit Deutschland zu tun hat, ist das Institutionelle Rahmenabkommen. Deutschland interessiert sich sehr für das Thema. Berlin will wissen, wo steht die Schweiz und wohin will unser Land gehen? Ein grosses Thema ist zudem der Schienenverkehr. Auf der Agenda steht die Rheinthalstrecke zwischen Basel und Karlsruhe. Wir Schweizer wollen, dass diese Strecke an die Neat angebunden wird, Deutschland ist da im Verzug. Ein Dauerthema ist zudem die Fluglärmbelastung rund um den Flughafen Zürich.
Wann hatten Sie das letzte Mal das Gefühl: Mein Gott, die Welt geht den Bach runter?
Dieses Gefühl hatte ich noch nie. Natürlich gibt es Momente, in denen ich denke: Wie soll es weitergehen? Ich finde zudem, dass die Klima-Diskussion nach wie vor nicht richtig ernst genommen wird. Das bereitet mir Sorgen – und zwar nicht nur beruflich, sondern auch persönlich, insbesondere, wenn ich an meine beiden Söhne denke.
Ist es moralisch noch vertretbar, Kinder in die Welt zu setzen?
Diese Frage habe ich mir auch schon gestellt, aber ich bin ein unverbesserlicher Optimist.
Die alte Weltordnung ist seit einiger Zeit immer mehr ins Rutschen geraten. Sehen Sie das auch so?
Wenn man überhaupt von einer alten Weltordnung reden kann, dann ja. Sicher sind Dinge, die wir lange als sicher und stabil empfunden haben, in letzter Zeit immer mehr verrutscht. Wir leben heute in einer multipolaren, schwierigeren und unsicheren Welt also noch vor 20 Jahren.
Seit Donald Trump im Januar 2017 sein Amt angetreten hat, scheint die gesamte liberale Weltordnung in Gefahr zu sein. Warum geschehen diese Verwerfungen in der Politik gerade jetzt?
Diese Entwicklung dauert schon länger an. Wir befinden uns in einer Phase, in der sich die negativen Auswirkungen der Globalisierung zeigen. Das führt zu nationalistischen Reflexen, die Länder schauen mehr auf eigene Interessen. Nach dem Kalten Krieg, also ab 1990, lebten wir in einer Ära der Kooperationen, des Neubeginns. Das änderte sich jedoch mit 9/11. Seither leben wir wieder in konfrontativeren Zeiten.
Erleben wir gerade das Ende der traditionellen Diplomatie? Trump traf Putin und Kim ohne Vorbereitung, Staatchefs und -präsidenten streiten sich über Twitter.
Das glaube ich nicht. Natürlich verändert sich die Diplomatie, so wie alles andere auch. Aber man sollte nicht vergessen: Die Diplomatie ist dazu da, die Beständigkeit und die Kontinuität der Beziehungen zwischen den Ländern zu wahren. Das ist das Kerngeschäft von uns Diplomaten. Direkte Gespräche von Staatschefs oder deren Auseinandersetzungen über Twitter sind so etwas wie Eruptionen, die ab und zu stattfinden. Für den Fluss der Beziehungen wird, davon bin ich überzeugt, aber auch weiterhin die Diplomatie zuständig sein. Denn es gibt nichts Schlimmeres, als wenn Unvorhergesehenes passiert in bilateralen Beziehungen.
Wie wichtig ist es heute, sich als Botschafter in den Sozialen Medien zu zeigen?
In Sachen Soziale Medien war ich lange ein Asozialer, seit einiger Zeit bin ich nun zum Konvertit geworden. Die Sozialen Medien sind wichtig, nicht zuletzt deshalb, weil ich über sie viel schneller viel mehr Leute erreichen kann.
Was kommt nach Instagram?
Oh, da fragen Sie mich jetzt etwas. Da bin ich wirklich kein Experte.
Unser neuer #Botschafter @PaulReneSeger zeigt schon am ersten #Arbeitstag Standfestigkeit und #Humor! @AuswaertigesAmt @botschaftbern Und hier ohne #Zwischenfall: https://t.co/XWGCzDBlbp pic.twitter.com/JY9R6xLFqB
— Schweiz in Berlin (@CHBotschaftDE) 29. August 2018
Passieren die wirklich guten Dinge, wenn man das Handy daheim liegen lässt?
Meine Frau ist in solchen Momenten zufriedener. Sie beklagt sich manchmal, ich sei zu oft am Handy.
Wieso sind in Berlin Gesichts-Tattoos gerade so aktuell?
Das weiss ich nicht – ich habe bisher auch noch nicht viele davon gesehen. Ich kann nur sagen: Tattoos haben sich in den letzten Jahren nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz sehr verbreitet. Mir kommt es manchmal vor, als hätte jeder zweite Mensch eines. Inzwischen ist fast ‘in’, wer seinen Körper nicht bemalt.
Ihr Spezialgebiet ist Völkerrecht. Ist die Welt heute ein rechtlich besserer Ort als vor 50 Jahren?
Besser als vor 50 Jahren schon, aber die letzten zehn, zwanzig Jahre waren schwierig. Für mich war 9/11 so etwas wie die Bruchstelle im internationalen Recht. Inzwischen müssen wir feststellen: Kein Rückschritt im Recht ist schon ein Fortschritt.
Wo geht es für Ihr Empfinden sozial gerechter zu – in der Schweiz oder in Deutschland?
Der Sozialstaat in Deutschland ist wahrscheinlich stärker entwickelt als in der Schweiz – bei uns wird mehr Wert auf Eigenverantwortung gelegt. Ob das am Schluss aber wirklich zu mehr Gerechtigkeit führt? Da setze ich ein Fragezeichen dahinter.
Definitionsfrage: Wo fängt für Sie Armut an?
Sie fängt spätestens dann an, wenn man durch sein Tageswerk den eigenen Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten kann.
Wo sollte Reichtum aufhören?
In nackten Zahlen ist das schwierig zu beurteilen. Reichtum sollte dort aufhören, wo er zu Lasten von anderen Menschen geht und er zur Ausbeutung der Natur führt. Meine Überzeugung ist, je reicher ein Mensch, desto grösser ist seine Verantwortung.
Haben Sie einen armen Freund?
Ein sehr guter Freund von mir ist Jesuitenpater. Er lebt in Vietnam in einfachen Verhältnissen. Selber würde er sich aber niemals als arm bezeichnen.
Das grosszügigste Geschenk, dass Sie jemals gemacht haben?
Ich hoffe: Zeit und Liebe.
Rührender Gegenstand, den Sie in Ihrem Portemonnaie mit sich herumtragen?
In meinem Portemonnaie trage ich keine rührenden Gegenstände herum.
Stellen Sie sich gelegentlich die Sinnfrage?
Regelmässig. Die Sinnfrage stellen heisst, sich selber zu hinterfragen. Das ist wichtig. Was ist meine Rolle als Mensch, als Vater, als Ehepartner, aber auch als Diplomat? Was sind meine Ziele? Warum bin ich auf der Welt?
Was ist Ihnen heilig?
Die Familie.
Wo zeigt sich Ihre Eitelkeit?
In diesem Interview.
Eine ehrliche Haut, dieser Botschafter. Momoll.
Worauf sind Sie stolz?
Auf mein Bauchgefühl – es hat mich bisher gut durch das Leben geleitet.
Welche Illusion lassen Sie sich nicht nehmen?
Das wir am Ende doch in einer besseren Welt leben, als ich anfänglich gedacht habe.
Welche Bücher haben Sie zweimal gelesen?
Meine Lieblingsschriftsteller sind Siegfried Lenz und Hermann Burger. Beide sind bereits verstorben. Von Lenz las ich die «Deutschstunde» mehrmals, von Burger mag ich den Roman «Schilten» besonders, auch diesen habe ich mehr als einmal gelesen.
Wieso lasen Sie gerade diese zwei Bücher mehrmals?
Ich liebe schöne Sprache.
Was lernten Sie aus der Literatur über Deutschland?
Deutschland ist ein Land der Dichter und Denker. Es gab und gibt ganz viele fantastische deutsche Schriftsteller. Deutschland hat eine starke literarische Tradition und eine unglaublich lebendige Literaturszene.
So grundsätzlich: Sind Ihnen die Menschen sympathisch?
Ja, sehr.
Was war der traurigste Moment in Ihrem Leben?
Mein Vater ist vor knapp einem Jahr gestorben.
Sind Sie ein guter Verlierer?
Sagen wir es so: Ich probiere es.
Wovor haben Sie Angst?
Ich bin ein gläubiger Mensch, und deshalb habe ich vor nichts wirklich Angst.
Sie glauben an Gott?
Ja.
Glauben Sie daran, dass es nach dem Tod weitergeht?
Das ist mir relativ egal. Ich definiere meinen Glauben nicht durch das Jenseits, sondern durch das Jetzt. Insofern habe ich auch keine Mühe mit dem Thema «Sterben». Nur einen qualvollen Tod will ich nicht erleben müssen. Wenn ich vor etwas Angst hätte, dann davor.
Wie erklärten Sie Ihren zwei Söhnen die Ungerechtigkeiten, die es auf der Welt gibt?
Als unsere beiden Söhne noch daheim wohnten, waren Politik, Recht und Moral oft Themen am Familientisch. Es ist wichtig, dass man als Eltern in solchen Diskussionen ehrlich ist: Die Welt ist nicht gerecht. Ich versuchte unseren Kindern zu erklären, dass man die Welt so akzeptieren muss, wie sie ist, aber man muss sie nicht so lassen, denn wer will, kann Veränderungen erreichen.
Gibt es bestimmte Werte, die Sie Ihren Kindern mitgeben wollen?
Meine Frau und ich versuchten unseren Kindern einen moralischen Kompass mitzugeben.
Haben Sie es geschafft?
Ich glaube, ja.
Wo ist Deutschland am schönsten?
Wahnsinnig schön ist Mecklenburg-Vorpommern. Diese Region habe ich erst kürzlich bereits. Auch die Ostsee-Küste gefällt mir gut. Aber ich kann mir noch kein Gesamtbild des Landes machen, weil ich in den zehn Monaten, in denen ich in Berlin tätig bin, noch nicht alle Regionen bereist habe.
Ist Ihr Ziel, als Botschafter jedes Bundesland zu bereisen?
Ja. Gestern habe ich meinen Antrittsbesuch in Mainz, der Hauptstadt des Bundeslands Rheinland-Pfalz, gemacht. Von den 16 Bundesländern habe ich bis jetzt zehn besucht. Wenn ich vor Ort bin, besuche ich jeweils die Regierung, danach gehe ich bei der Schweizer Kolonie vorbei und meistens noch bei einer Schweizer Firma oder sonst einer Institution, die schweizerische Wurzeln hat.
Ihr Lieblingsort in Berlin?
Der Tiergarten.
Wo ist die Schweiz am schönsten?
Natürlich in Basel – besonders gern stehe ich auf der Mittleren Brücke und schaue Richtung Münsterhügel. Schön finde ich auch den Vierwaldstättersee – ganz besonders das Gersauer Becken.
Können Sie die Schweizer Hymne auswendig?
Die erste Strophe kann ich – und die singe ich jeweils auch mit.
Muss ich Chinesisch lernen, um die Zukunft zu verstehen?
Es wäre sicher nicht schlecht, wenn Sie Chinesisch lernen würden. Ich denke, in 20, 30 Jahren wird China eine noch viel grössere Bedeutung haben, als das Land bereits heute hat. Es wird prognostiziert, dass China bis spätestens 2030 die USA in Sachen Bruttosozialprodukt überholt haben wird. Man muss in Zukunft noch mehr mit China rechnen als bisher.
Ihr nächster Termin?
Eine Weindegustation. Wir werden für die grosse Soirée, die wir im September in der Botschaft organisieren, die Weine auswählen.
Schweizer Weine?
Selbstverständlich.
Zur Person: Paul Seger
Paul Seger (1958) wuchs in Basel auf. Er studierte an der Uni Basel und schloss sein Studium mit dem Doktorat der Rechte ab. 1983 trat er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten ein. Ab 1986 war er in Kinshasa, New York (UNO) und Buenos Aires im diplomatischen Dienst. Zwischen seinen Auslandseinsätzen amtete Seger von 2003 und 2010 als Chef der Direktion für Völkerrecht. Gleichzeitig übte er die Funktion des Schweizer Botschafters im Fürstentum Liechtenstein mit Sitz in Bern aus. Von 2010 bis 2015 war Seger Chef der Ständigen Mission der Schweiz bei den Vereinten Nationen in New York. Vor seiner Ernennung zum Schweizer Botschafter in Berlin war er von 2015 bis 2018 Missionschef in Yangon, Myanmar. Seger ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Söhnen.