Bötschi fragt Georgine Kellermann«Alice Schwarzer ist irgendwann falsch abgebogen»
Bruno Bötschi
15.6.2024
Es brauchte 62 Jahre, bis Georgine Kellermann öffentlich zu ihrer Identität als trans Frau stand. Ein Gespräch über die Toleranz in unserer Gesellschaft, den Umgang mit Shitstorms – und was sie am meisten bereut.
Bruno Bötschi
15.06.2024, 23:43
25.09.2024, 15:21
Bruno Bötschi
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Georgine Kellermann ist eine der bekanntesten trans Aktivistinnen in Deutschland.
Dieser Tage ist ihre Autobiografie «Georgine – Der lange Weg zu mir selbst» erschienen. Darin führt Kellermann ihren Kampf für mehr Toleranz, Sichtbarkeit und Normalität in unserer Gesellschaft fort.
«Ich bin heute als Georgine glücklicher als Georg. Meine gute Freundin Astrid hat einmal gesagt, ich sei heute ein ganz anderer Mensch», sagt Georgine Kellermann im Gespräch mit blue News.
Den ersten Teil des Gesprächs mit Georgine Kellermann findest du hier.
Frau Kellermann, was fühlten Sie, als Sie vor wenigen Tagen das erste gedruckte Exemplar von Ihrer Autobiografie «Georgine – Der lange Weg zu mir selbst» in den Händen hielten?
Gerade gestern sprach ich mit einer Freundin darüber, wie sich das angefühlt hat. Es heisst doch immer, ein Buch zu schreiben und zu publizieren sei so ähnlich, wie wenn man ein Baby bekommt. Meine Freundin meinte nur: «Und du wirst sehen, diese Liebe wächst mit der Zeit noch mehr.»
Fürchten Sie sich vor schlechten Kritiken?
Natürlich wird es die geben. Damit muss ich leben. Mein Leben nochmals Revue passieren zu lassen, war jedoch derart wertvoll, dass ich auch dann sagen würde, es hat sich gelohnt, wenn nur ein einziges Exemplar meines Buches verkauft würde.
Gab es Zeiten, in denen Sie zweifelten, ob es eine gute Idee sei, Ihre Lebensgeschichte öffentlich zu machen?
Die Zweifel gab es nicht.
Zum Autor: Bruno Bötschi
blue News
blue News-Redaktor Bruno Bötschi spricht für das Frage-Antwort-Spiel «Bötschi fragt» regelmässig mit bekannten Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland. Er stellt ihnen ganz viele Fragen – immer direkt, oft lustig und manchmal auch tiefsinnig. Dabei bleibt bis zur allerletzten Frage immer offen, wo das rasante Pingpong hinführt.
Hatten Sie nie ein schlechtes Gewissen, dass Sie mit Ihrer Autobiografie anderen trans Menschen, die schon viel länger geoutet sind, vor der Sonne stehen könnten?
Darüber machte ich mir bisher keine Gedanken. Aber die Frage ist berechtigt.
In Ihrem Buch schreiben Sie: «Lange habe ich mich zu Hause eingeigelt, weil ich dort ich selbst sein konnte. Wenn ich heute ins Kino oder ins Theater gehe, so sorglos, so unbeschwert – fast so, als ob ich dorthin fliege – dann frage ich mich manchmal: Was habe ich verpasst? Da schwingt dann schon ein bisschen Reue mit, dass ich das nicht eher geschafft habe.» Was bereuen Sie am meisten, wenn Sie auf Ihr bisheriges Leben zurückblicken?
Ich bereue am meisten, dass ich Menschen, die mich jahrelang unterstützt haben und denen ich hundert Prozent vertrauen konnte, vor den Kopf gestossen habe.
Wie meinen Sie das?
Wenn meine gute Freundin Astrid sagte «Ich gehe mit dir im Rock, wo immer du hingehen willst, aber geh mit mir», dann hätte ich das schon vor vielen Jahren ernst nehmen und über meinen eigenen Schatten springen sollen.
Der Psychotherapeut Udo Rauchfleisch sagt, dass sich viele Menschen erst in einer späteren Lebensphase für eine Transition entscheiden. Es würde dann eine Last abfallen, und sie würden im Alter glücklicher sein, als sie es vor ihrem Coming-out waren. Sind Sie heute als Georgine Kellermann glücklicher, als sie es als Georg waren?
Ja, ich bin als Georgine glücklicher als als Georg. Meine gute Freundin Astrid hat einmal gesagt, ich sei heute ein ganz anderer Mensch.
Sind Sie heute als Georgine auch mutiger, als Sie es als Georg waren?
Ich muss heute mancherorts weniger vorsichtig sein, derweil ich an anderen Orten besser aufpassen muss. Stehe ich etwa auf einem Bahnsteig, schaue ich immer, dass ich etwas im Rücken habe. Nicht, dass da jemand auf dumme Ideen kommt und mich schubsen will. Aber nicht, dass Sie jetzt meinen, dass mich dies stark bedrücken würde. Diese Vorsicht geht irgendwann einfach in Fleisch und Blut über. Sie belastet mich aber nicht.
Ich würde behaupten, Sie sind mutiger geworden und stehen für Ihre Meinung ein – allein schon, wenn ich Ihre Tweets auf X lese.
Das stimmt, ich gebe dort stärker Konter als früher.
Sie mussten auch schon den einen oder anderen Shitstorm erleben. Was macht das mit Ihnen?
An Shitstorms kann man sich gewöhnen. Auch wenn ich froh bin, wenn ich nicht zu oft Opfer davon bin. Heute weiss ich jedoch, wenn es wieder einmal passiert: Ein Shitstorm geht vorüber.
In der Vergangenheit haben Sie auch schon Tweets auf X wieder gelöscht. Warum haben Sie das getan?
Konkret geht es um den Tweet «Wir müssen unsere Demokratie auch mit undemokratischen Mitteln gegen ihre Feinde verteidigen. Weil sie es wert ist.» Ich wollte damit sagen, wir müssen die Demokratie schützen. Doch dies wurde von gewissen Leuten völlig falsch verstanden. Deshalb habe ich den Tweet gelöscht und habe mich danach auch noch erklärt. Das wollte die Hater-Community aber nicht mehr sehen, sondern machte ein grosses Fass auf. Tweets löschen ist im Allgemeinen aber keine gute Idee.
Sind die sozialen Medien für trans Menschen Fluch oder Segen?
Ich glaube, sie sind ein Segen. Ich wüsste nicht, wo ich heute ohne die sozialen Medien wäre. Was hätte ich denn gemacht, als ich mich outen wollte? Eine Bühne gemietet und mich da oben hingestellt?
Was auffällt: Bei trans Menschen wird rascher die Intimsphäre verletzt. Sie werden fast genötigt, über ihre Genitalien und eventuelle Operationen Auskunft zu geben. Wie gehen Sie im Alltag mit verbalen Verletzungen um?
Ich weiss nicht, warum die Hemmschwelle gegenüber trans Menschen oft tiefer ist. Ich für meinen Teil kann sagen, dass ich auf verbale Verletzungen nicht eingehe. Und sowieso: Diese Fragen sollten trans Menschen mit ihren Ärzten, Psychologen und Psychiatern klären.
So grundsätzlich: Wie erleben Sie die aktuelle Situation von trans Menschen in Deutschland?
Die Situation ist heute besser als noch vor einigen Jahren. Für junge Menschen ist trans längst etwas ganz Normales. Dass trans Menschen heute aber nach wie vor gemobbt werden, hat sicherlich auch mit dem Rechtsrutsch in der Politik zu tun. Durch die menschenverachtende Politik von Parteien wie der AfD fühlen sich manche Menschen bestärkt darin, trans Menschen immer wieder herabzuwürdigen.
Laut Statistik nehmen Gewalttaten gegen queere Menschen zu.
Ich lasse mir mein Leben nicht zerstören und klopfe auf Holz, dass ich damit auch weiterhin gut fahre.
In Ihrer Autobiografie beschreiben Sie eine Szene, die sich in San Francisco zugetragen hat: Eine Frau bewundert Ihre Fingernägel und fragt, wer die gemacht hat. Sie antworten: «Ich selbst.» Da sagt die Frau: «Wow, she did it herself.» Sind das so Momente, wo Sie denken: Wie wäre es schön, wenn das immer so wäre?
Mich hat berührt, dass die Frau mich sofort richtig angesprochen hat. Solche Erlebnisse tun gut – sie passieren aber auch in Deutschland. Als ich heute Morgen zurück ins Hotel lief, drehte sich eine Frau um und sagte: «Entschuldigen Sie, habe ich Sie gestern im Fernsehen gesehen? Ich finde das toll, dass ich Sie hier treffen darf.»
Wie gefreut haben Sie sich, als Nemo mit dem Song «The Code» den diesjährigen Eurovision Song Contest gewonnen hat?
Der Sieg hat gezeigt, dass unsere Gesellschaft schon viel weiter ist, als sich manch Ewiggestrige wünschen.
Nemo identifiziert sich als non-binär. Was denken Sie, warum gibt es nach wie vor Menschen, die an den Kategorien «Mann» und «Frau» festhalten wollen?
Ach, ich denke, wir sind auf einem guten Weg und in ein paar Jahren werden die Geschlechter keine so grosse Rolle mehr spielen wie heute.
Nadia Brönimann, eine der bekanntesten trans Frauen der Schweiz, sagte vor einem Jahr im Interview mit dem «Tages-Anzeiger»: «Ich muss, möchte und kann nie wie eine biologische Frau sein. Das biologische Frauenbild war lange das Vorbild, das ich eins zu eins kopieren wollte. Aber das werde ich nie erreichen. Ich bin anders sozial geprägt, habe einen anderen Körper. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das verstanden habe.»
Das ist die Erfahrung von Frau Brönnimann. Ich kann sie nachvollziehen, auch wenn ich ihr nicht ohne Weiteres und in allen Teilen zustimmen kann. Ich weiss auch, dass ich anders bin. Gleichzeitig ist mir aber bewusst, dass es nicht nur um die Biologie geht.
Hätten Sie Lust, einmal mit Alice Schwarzer essen zu gehen?
Ich würde Alice Schwarzer für mein Leben gern persönlich kennenlernen.
Schwarzer gilt als Ikone der Frauenbewegung. Sie hat in Interviews mehrfach behauptet: «Es gibt einen modischen Trend für junge Leute, trans zu sein. Das ist schick.»
Ich bin der Meinung, dass Alice Schwarzer früher viel dafür getan hat, dass es Menschen wie mir besser geht. Sie setzte sich unter anderem für eine Liberalisierung ein.
Was macht das mit Ihnen, wenn Schwarzer heute behauptet: «Trans zu sein, ist Mode – und gleichzeitig die grösste Provokation. Das macht es für Jugendliche so attraktiv.»
Ich sage immer, Alice Schwarzer ist irgendwann falsch abgebogen. Das ist auch schon einige Zeit her. Eine Diskussion mit ihr würde wahrscheinlich nicht viel bringen, weil sie kaum von ihrer Meinung abweichen würde – auch dann nicht, wenn ich ihr dezidiert erklären könnte, was mit mir los ist.
Im September 2020 schrieben Sie in der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit», dass, wenn Sie gefragt werden, was «Frau sein» für Sie bedeute, es Ihnen schwerfalle, dies in Worte zu fassen. Haben Sie nach dem Schreiben Ihrer Autobiografie eine Antwort auf die Frage gefunden?
In Deutschland leben über 40 Millionen Frauen. Würden ihnen allen diese Frage gestellt, gäbe es ganz viele unterschiedliche Antworten. Und deshalb: Ich möchte mich lieber nicht auf diese Diskussion einlassen. Die Gefahr ist zu gross, dass Taubenschach gespielt würde.
Was würde gespielt?
Mit dummen Menschen zu streiten, ist wie mit einer Taube Schach zu spielen. Egal, wie gut jemand Schach spielt, die Taube wird alle Figuren umwerfen, auf das Brett kacken und herumstolzieren, als hätte sie gewonnen.
Die Deutsche Presseagentur fasst die Botschaft Ihrer Autobiografie wie folgt zusammen: «Die allermeisten Menschen sind viel toleranter als man denkt – und deshalb sollten sich alle trauen, so zu leben, wie sie wirklich sind.»
Was denken Sie, klingt das ein bisschen zu naiv? Vielleicht hat es mit einem gewissen Selbstschutz zu tun, dass ich das Leben grundsätzlich positiv sehe und es deshalb auch nett beschliessen möchte. Fakt ist aber auch, dass ich seit meinem Outing regelmässig Pride-Veranstaltungen besuche, mich viel öfter wehre und aufstehe, wenn mir etwas nicht passt. Ich versuche aber, immer freundlich zu bleiben.
Werden Sie weiter als Autorin tätig sein?
Wissen Sie was, ich wollte ursprünglich ein ganz anderes Buch schreiben. Eine Biografie über einen Juden namens Georg Kellermann, der in Berlin wohnte und in Auschwitz umgebracht wurde. Ich sehe es als persönliche Verpflichtung, seine Geschichte zu erzählen. Dieses Projekt werde ich als Nächstes angehen.
Der erste Teil des Gesprächs mit Georgine Kellermann findest du unter diesem Link.
Nadia Brönimann: «Deswegen wird sie in der Trans-Community angefeindet»
Eine Netflix-Doku erzählt die Transformation-Geschichte des Zehnkampf-Olympiasiegers Bruce Jenner. Transfrau Nadia Brönimann hat sich «Untold: Caitlyn Jenner» angeschaut und erklärt, was sie von der öffentliche Inszenierung hält.