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Interview mit Psychiater Was wir aus Aviciis Schicksal lernen können
Runa Reinecke
20.4.2019
Als sich Tim Bergling alias Avicii mit nur 26 Jahren vom DJ-Pult verabschiedet, ist er körperlich und seelisch am Ende. Ein Jahr nach seinem Tod erörtert «Bluewin» mit einem Psychiater mögliche Auswirkungen von Terminstress und Erfolgsdruck.
Er war einer der erfolgreichsten DJs und Produzenten aller Zeiten, Hits wie «LE7ELS» oder«Wake me up» machten ihn zum Superstar. Madonna, Robbie Williams oder John Bon Jovi, arbeiteten mit ihm zusammen – selbst Barack Obama erwähnte ihn in einer seiner Reden. Tim Bergling, besser bekannt als Avicii, schaffte es nach ganz oben – doch das Leben in der Showbranche liess ihn verzweifeln.
So sehr, dass er sich 2016 im Alter von nur 26 Jahren aus der Öffentlichkeit zurückzog. Am 20. April 2018 verstarb Tim Bergling während einer Ferienreise in Oman. Eine Fremdeinwirkung, die zu seinem Tod führte, wurde ausgeschlossen.
Ein Jahr später bleibt die Frage nach dem Warum. Welche langfristigen Auswirkungen haben Terminstress und Erfolgsdruck auf einen Menschen – egal, ob als gefeierter Star im Blitzlichtgewitter oder als Angestellter im Grossraumbüro? Wir haben bei Oliver Hartmann, Psychiater und Psychotherapeut aus Zürich, nach Antworten auf Fragen zu belastenden Faktoren im Berufsleben gesucht.
Herr Hartmann, warum sind Ruhm und Untergang bei manchen Stars – nehmen wir das Beispiel Avicii –, geradezu untrennbar miteinander verknüpft?
Das lässt sich nur schwer beurteilen, wenn man die betreffende Person nicht kennt oder nicht kannte. Tragische Künstlerschicksale gab es wahrscheinlich zu allen Zeiten, und es stecken doch individuelle und unterschiedliche Lebensgeschichten dahinter.
Es spricht aber aus meiner Sicht vieles dafür, dass in der Generation von Avicii und anderen jüngeren Künstlern die Hoffnung auf und der Wunsch nach Ruhm durch die sozialen Medien besonders verstärkt wird. Über Kanäle wie «Youtube» lassen sich viele Menschen erreichen, und man kann es – in relativ kurzer Zeit – auf die ganz grosse Bühne schaffen. Durch die sozialen Medien werden Künstler und andere Personen des öffentlichen Interesses aber auch schnell mit den Schattenseiten ihrer eigenen Prominenz konfrontiert.
Was erachten Sie als besonders belastend?
Ich kann mir vorstellen, dass die Welt der DJs und Musikproduzenten, insbesondere auf diesem Niveau, sehr anstrengend ist. Das ist keine Kunstrichtung, der eine klassische Ausbildung zugrunde liegt und bei der man eher langsam und schrittweise an eine grössere Öffentlichkeit und an den Erfolg herangeführt wird. Zudem ist man in dieser Branche ständig unterwegs: Berühmte DJs treten in Clubs weltweit auf – und haben dann den Druck, immer und überall termingerecht und in hoher Kadenz abliefern zu müssen.
«Durch die sozialen Medien werden Künstler und andere Personen des öffentlichen Interesses aber auch schnell mit den Schattenseiten ihrer eigenen Prominenz konfrontiert.»
Und das, obwohl Künstler eher zu den sensiblen Naturen zählen …
Es ist für die Betroffenen bestimmt nicht einfach, den Spagat zwischen dem künstlerischen Schaffen und den Ansprüchen, die seitens ihres Umfelds besteht, hinzubekommen. Ganz besonders dann nicht, wenn mehr und mehr kommerzielle Interessen eine Rolle spielen. Wie gesagt, tragische Künstlerschickale hat es wahrscheinlich schon immer gegeben. Man könnte postulieren, dass das ein wenig zur Kunst dazugehört. Durchaus möglich, dass es heute, unter den bestehenden Umständen, noch schwieriger geworden ist.
Denken Sie, dass bei Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, ein höheres Erkrankungsrisiko besteht?
Das hängt aus meiner Sicht wieder sehr von individuellen Eigenschaften ab. Nehmen wir beispielsweise Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur: Sie suchen oft das Rampenlicht und die öffentliche Aufmerksamkeit, gleichzeitig sind sie aber auch stärker gefährdet, psychisch zu erkranken. Das heisst aber nicht, dass alle Menschen, die aufgrund besonderer Talente in der Öffentlichkeit stehen, narzisstische Persönlichkeiten sind. Und das trifft vermutlich auch nicht auf Tim Bergling alias Avicii zu.
Nicht zu unterschätzen ist, dass man heute auch ständig auf Instagram, Facebook und anderen Social-Media-Plattformen präsent sein muss. Einige prominente Persönlichkeiten posten fast rund um die Uhr etwas auf ihren Accounts. Sie werden überall erkannt, fotografiert und gefilmt, wodurch kaum noch Rückzugsorte bestehen, an denen sie sich sicher fühlen können und nicht behelligt werden. Diese permanente Stressbelastung ist vermutlich schon mit einem erhöhten Risiko verbunden, gesundheitlich Schaden zu nehmen.
Sie erwähnten die narzisstischen Persönlichkeiten, zu denen man einen grossen Teil der DJ und Musikproduzenten zählen darf. Tim Bergling war anders – ein stiller Tüftler, einer, der die grosse Bühne scheute. Trotzdem sah er sich in der Pflicht, unzählige Shows mitzumachen. Was macht das mit einem sensiblen, introvertierten Menschen?
Ich muss sagen, dass ich als Psychiater/Psychotherapeut nicht viele Menschen kennengelernt habe, die in dieser Branche tätig waren und die dabei in eine ähnlich extreme Situation geraten sind. Man kann sich aber fragen, ob jemand, der seine Kunst und seine Kreativität eher als Tüftler, zurückgezogen und für sich selbst entdeckt und entwickelt hat, für ein solches Leben geeignet ist, dem gewachsen sein kann. Speziell wenn sein Weg zur Musik und zur Kunst vielleicht von vornherein auch etwas mit Schüchternheit, Scheu und Rückzug von anderen Menschen zu tun hatte. Diese Kombination ist bestimmt ziemlich schwierig und kritisch, besonders für einen Menschen in diesem jungen Lebensalter.
Es ist gut vorstellbar, wie auf dieser Basis Ängste entstehen können, Unsicherheit, Unruhe, Schlafstörungen ... – also eine ganze Reihe psychiatrischer Krankheitszeichen.
Avicii betäubte seine Ängste mit Rauschmitteln. Neigen Menschen mit Angsterkrankungen eher dazu, Alkohol und Drogen zu konsumieren?
Dass bei solchen Menschen eine sekundäre Problematik mit Substanzkonsum hinzukommt, ist relativ häufig. Dabei geht es um den Konsum von Alkohol, Medikamenten wie Tranquilizern oder Opiaten, die sich dazu eignen, kurzfristig Ängste zu vermindern.
Gut nachzuvollziehen ist, wenn jemand, der unter sozialen Ängsten leidet, aber ständig von vielen Menschen umgeben ist und sich dadurch unwohl fühlt, versucht, seine Ängste mit Alkohol oder mit Medikamenten herunterzuregulieren. Das funktioniert kurzfristig meist ganz gut und zuverlässig – langfristig kann es zerstörerisch wirken.
«Dass bei solchen Menschen eine sekundäre Problematik mit Substanzkonsum hinzukommt, ist relativ häufig. »
Eigentlich wäre zu erwarten gewesen, dass Bergling sich nach seinem Rückzug vom Bühnenleben erholt. Zwei Jahre später war er tot. Hätte er früher die «Reissleine» ziehen müssen?
Wenn jemand so viel erreicht hat, dazu noch in so kurzer Zeit, dann ist es bestimmt nicht leicht, auszusteigen und woanders wieder ganz neu anzufangen. Dafür muss man kein Weltstar sein. Ich kenne das auch von Menschen, die in Altersrente gehen: Vorher denkt man vielleicht, man lässt auf einen Schlag das anstrengende Berufsleben hinter sich, geniesst die freie Zeit. Stattdessen entsteht mitunter eine grosse Leere.
Um zu spüren, dass man Anerkennung, Verantwortung, Bewunderung und Erfolg vermisst, muss man nicht besonders narzisstisch gestrickt sein. Was man zuvor erlebt und bekommen hat, ist plötzlich weg. Auch jemand, der eher sensibel, schüchtern und zurückhaltend ist, gewöhnt sich an die positiven Seiten des Ruhms. Für eine solche Berühmtheit, die derartiges, öffentliches Interesse erlangt hat, sind die damit verbundenen Auswirkungen mit einem Entzug vergleichbar. Ähnlich wie bei einer Droge, an die sich der Körper gewöhnt hat und die dann plötzlich nicht mehr verfügbar ist. Dadurch entstehen Entzugssymptome.
Ob es eine Reissleine gibt oder einen richtigen Zeitpunkt, aus einer solchen Situation auszusteigen, ist schwer zu sagen. Bestimmt aber ist dieses Bühnenleben mit solchen Risiken verbunden und irgendwann kann es zu spät sein – fast wie bei einer Drogensucht.
Egal, ob man im Showbusiness, in einer Bank arbeitet oder ein Restaurant führt: Welche Faktoren steigern das Risiko, aufgrund des Berufs psychisch krank zu werden?
Dazu kann ich berichten, dass sich der Alltag in der psychiatrischen Praxis in den letzten 20 Jahren ziemlich verändert hat. Früher standen die klassischen psychiatrischen Krankheiten wie Schizophrenie, bipolare Störung, Angst- und Zwangserkrankungen im Vordergrund. Heute nehmen sogenannte Stressfolgeerkrankungen einen grossen Raum ein. Man kennt das zum Beispiel unter dem Begriff «Burnout». Dabei geht es nicht um Menschen, die primär an einer psychischen Krankheit leiden, sondern um Folgen anhaltender Belastung in bestimmten Lebenssituationen. Besonders in der heutigen Arbeitswelt. Eine grosse Rolle dabei spielt die Unsicherheit über die berufliche Zukunft und die wirtschaftliche Existenz.
Auch durch die Anonymität und die häufig kaum nachvollziehbaren Entscheidungswege in grossen Betrieben wird das verstärkt. Aber auch die Art und Weise des Umgangs miteinander scheint sich verändert zu haben: Faktoren wie mangelnde Wertschätzung, fehlende persönliche Ansprache und Förderung, bis hin zu Konflikten – Stichwort «Mobbing» – tragen auch dazu bei. So erkranken offenbar immer mehr Menschen, die eigentlich über eine gesunde psychische Grundkonstitution verfügen.
Warum ist es für einige Menschen so schwierig, zerstörende Strukturen zu erkennen und sich aus einer solchen Mühle zu befreien?
Oft steckt eine existenzielle Angst dahinter und die finanzielle Verantwortung für die Familie, die Kinder. Das sind natürlich sehr reale Faktoren, die häufig dazu führen, dass man Warnsignale eher ignoriert und vielleicht nicht rechtzeitig die Notbremse ziehen kann.
Welche Rolle spielt das Umfeld?
Es kann einerseits entlastend und unterstützend sein. Auf der anderen Seite sehe ich immer wieder Patienten, bei denen es gleich in unterschiedlichen Lebensbereichen schwierig ist: Probleme im Beruf und gleichzeitig Konflikte mit dem Partner, den Kindern oder ein betreuungsbedürftiges Elternteil, das viel Kraft und Aufmerksamkeit fordert. Das Umfeld kann also auch zusätzlich belasten.
«Früher standen die klassischen psychiatrischen Krankheiten im Vordergrund. Heute nehmen sogenannte Stressfolgeerkrankungen einen grossen Raum ein.»
Gibt es Warnsignale, die man unbedingt ernst nehmen sollte?
Meist gibt es sehr konkrete, körperlich spürbare Anzeichen. Nehmen wir ein sehr häufiges, die Schlafstörungen. Mit dem Schlafmangel wird man dünnhäutiger, verletzlicher, reagiert dadurch auch empfindlicher auf Situationen und Konflikte, beispielsweise im Berufsalltag. Kommt dann der Gebrauch oder Missbrauch von Alkohol und/oder Schlafmitteln hinzu, gerät der Betroffene schnell in einen Teufelskreis.
Weitere mögliche Anzeichen stellen Appetitminderung und Gewichtsverlust dar, oder auch, dass man die Fähigkeit verliert, sich zu entspannen und Dinge zu geniessen, die einem sonst immer Freunde bereitet haben. Wenn solche Symptome auftreten, sollte man sie ernst nehmen und nicht zu lange damit warten, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig kann es hilfreich sein, auch bei seinen Mitmenschen auf besagte Anzeichen zu achten und sie auch darauf anzusprechen.
Zur Person: Dr. med. Oliver Hartmann ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Facharzt für Neurologie. Er absolvierte seine Facharztausbildung in Deutschland, er lebt und arbeitet seit dem Jahr 2000 in der Schweiz. Bis 2005 war er als Oberarzt in der Psychiatrischen Klinik Sanatorium Kilchberg am Zürichsee tätig, seither arbeitet er in seiner eigener Praxis, dem Neurozentrum Fluntern in Zürich.
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