Welt-Aids-Tag«HIV-positive Menschen werden noch immer ausgegrenzt»
Von Sulamith Ehrensperger
1.12.2020
Sex mit Kondom schützt vor HIV, das ist bekannt. Doch die wenigsten wissen, dass HIV-positive Menschen unter Therapie niemanden anstecken. Das Gespräch mit einem HIV-Experten über Irrtümer und Aids-Stigmata.
Herr Schocher, das HI-Virus lässt sich kontrollieren, heilbar aber sind HIV und Aids nicht. Der Welt-Aids-Tag ist jedoch einer der wenigen Tage, an denen die Krankheit in den Medien thematisiert wird. Welche Bedeutung hat der Tag für Sie?
Er ist eine Chance, die Lebensrealität von Menschen mit HIV sichtbar zu machen. Persönlich begegne ich ihm mit gemischten Gefühlen: Es macht mich traurig, wenn ich an die vielen Leute denke, die an Aids gestorben sind; es erfüllt mich aber auch mit Stolz, wenn ich mich in der Tradition einer ganzen Bewegung sehe, die in 35 Jahren Kampf gegen diese Krankheit sehr viel erreicht hat.
HIV setzen viele mit Bildern gleich, wie sie in den 80ern durch die Medien gingen: ausgemergelte Körper meist von Drogenabhängigen oder Homosexuellen im Endstadium der Krankheit. Vielleicht auch Bilder von Rock Hudson oder Freddy Mercury. Warum ist HIV immer noch auf diese Weise in vielen Köpfen verankert?
Dass viele HIV mit Aids gleichsetzen, beobachten wir bei der Aids-Hilfe auch. Wir führen das auf einen paradoxen Effekt zurück: Indem HIV-positive Menschen dank Medikamenten nicht mehr sterben, ist die Krankheit weniger sichtbar geworden. Wer HIV hat, muss daran nicht sterben. Betroffene haben heute bei rechtzeitiger Behandlung eine fast normale Lebenserwartung. Mehr noch: Ob Job, Freizeit oder Sexualität – sie können ein ganz normales Leben führen. Viele HIV-Positive, die ein Coming-out wagen, machen jedoch die Erfahrung, dass diese alten Bilder noch da sind, diejenigen von todkranken Leuten, ausgezehrten Gesichtern, die nicht ersetzt worden sind durch aktuellere Bilder, weil es die eben nicht gibt.
Zur Person: Nathan Schocher
zVg
Nathan Schocher ist Leiter Programm Menschen mit HIV und Leiter Wissensmanagement bei der Aids-Hilfe Schweiz. Die Aids-Hilfe Schweiz engagiert sich schweizweit für Menschen mit HIV, ihre Partner und Partnerinnen. Sie fungiert auch als Meldestelle für Diskriminierungen und Persönlichkeitsverletzungen im Bereich HIV/Aids.
Die Berührungsängste gegenüber Menschen mit HIV sind also in der Bevölkerung nach wie vor gross. Wie erleben Menschen mit HIV auch heute noch Diskriminierung?
Im Schnitt sind es 100 Fälle jedes Jahr, die uns gemeldet werden. Das bedeutet, jeden dritten Tag wird in der Schweiz eine HIV-positive Person diskriminiert und meldet dies auch noch weiter. Häufig betrifft es Menschen, die aufgrund ihrer Diagnose den Job verloren haben, Beziehungspartner, die die HIV-Diagnose aus Rache am Ex-Partner auf Facebook veröffentlichen oder Krankentaggeld-Versicherungen, die HIV-Positive nicht versichern wollen.
Wie können Sie in solchen Fällen helfen?
Wir haben einen Rechtsdienst, um intervenieren zu können, und sind in vielen Fällen erfolgreich. Am schwierigsten ist es bei Diskriminierungen im privaten Bereich. Häufig ist es so, dass es schon zu spät ist, um den Schaden wieder gutzumachen, beispielsweise bei Datenschutz-Verletzungen. Etwa der Fall, wo eine Schülerin ihrer Lehrerin anvertraut hatte, dass ihre Mutter HIV-positiv ist, worauf die Lehrerin die ganze Schulklasse informiert hat, ohne die Schülerin oder deren Mutter zu fragen. Das lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Häufig wollen Betroffene dann nicht, dass noch mehr Wirbel um das Ganze gemacht wird.
Die Eidgenössische Kommission für Aidsfragen hat 2008 als erste offizielle Institution gesagt: Menschen unter Therapie und ohne Virus im Blut sind nicht infektiös. Wissen die Menschen inzwischen, dass HIV-positive Menschen unter erfolgreicher Therapie niemanden anstecken?
Es ist leider so, dass dies immer noch zu wenig bekannt ist. Allerdings ist das nicht ganz zufällig so. Nach dem Statement der Kommission ging ein Aufschrei um die Welt: Das dürfe man doch so nicht sagen, selbst wenn es stimme, weil sich die Leute nicht mehr schützen würden. Deshalb war man auch in der Schweiz erst zurückhaltend mit der Verbreitung an die breite Bevölkerung. Rückblickend vielleicht aus einer falschen Angst und dem Resultat, dass HIV-positive Menschen noch immer ausgegrenzt werden.
Trotz erfolgreicher Kampagnen gibt es immer noch viele Gerüchte und Irrtümer. Etwa, dass Betroffene auf ein glückliches Sexualleben, eine erfüllte Beziehung und Kinder verzichten müssten.
Unter erfolgreicher Therapie muss niemand auf all diese Dinge verzichten. Auch während einer Schwangerschaft können die Medikamente eingenommen werden, so ist das Kind geschützt und kommt HIV-negativ zur Welt. Heute wird bei Frauen in der Schweiz eine Infektion häufig auch im Moment einer Schwangerschaft festgestellt. Denn das Bundesamt für Gesundheit empfiehlt Frauenärztinnen und -ärzten, alle Schwangeren auf HIV zu testen.
Der Slogan «Ohne Dings kein Bums» oder das «Röllele, Röllele» des Kondoms über eine Banane ist vielen im Gedächtnis haften geblieben. Wie hat HIV auch das Reden über Sexualität verändert?
Das Bild mit Kondom und Banane war in der Schweiz ein historischer Moment, damals als der Tagesschausprecher in der Livesendung erklärte, wie es funktioniert. Zuvor wäre so etwas undenkbar gewesen – ohne die Aidskrise wäre es in der Schweiz wohl nie zu einem derart offenen Umgang gekommen. Als Vertreter einer Gesundheitsorganisation bin ich um alle froh, die mit Sexualität offen umgehen können, nur so können wir die Menschen aufklären.
Viele Junge dürften das «Röllele, Röllele» auf der Banane nicht mehr kennen, stattdessen bei Instagram oder TicToc unterwegs sein. In oberflächlichen Medien haben ernste Themen vielleicht weniger Platz – wie können Sie die junge Zielgruppe trotzdem erreichen?
Soziale Medien bieten neue Kanäle der Aufklärung, die ich als Chance sehe. Mit Informationen über Sexualität erreichen wir sie, weil das diese Zielgruppe ja auch interessiert. Dass sich junge Leute weniger schützen, mehr Risiken eingehen oder schlechter informiert sind, dafür gibt es zum Glück keine Hinweise.
Ich erinnere mich an meine Aufklärung damals in der Schule: Den Sexualkundeunterricht übernahm der Biologielehrer, er verdunkelte das Zimmer und spielte Lehrfilme zu Sexualität und Verhütung ab.
Bei der sexuellen Aufklärung in der Schule haben Sie entweder Glück oder Pech, denn sie ist in der Schweiz kantonal unterschiedlich geregelt. Je nachdem ist es der Biologielehrer, der aufklärt, oder eine Fachstelle, die jemanden schickt, der mit den Schülerinnen und Schülern mehrere Tage arbeitet. Das sind zwei ganz verschiedene Ausgangslagen.
Wer braucht in Sachen HIV-Aufklärung Nachhilfe?
Vielleicht sind es tatsächlich die älteren Semester. Die Beziehungen dauern oft nicht mehr das ganze Leben lang wie früher. Manche sind mit Anfang 50 plötzlich wieder Single, sie wissen nicht mehr so genau, wie das funktioniert mit dem Schutz und so. Aufholbedarf können auch Menschen mit Migrationserfahrung haben, die in der Schweiz keine Schule besucht haben und vielleicht auch aus kulturellen Gründen in ihren Communitys oder Familien nicht unbefangen über Sexualität sprechen können.
Wie beeinflusst Covid19 die Wahrnehmung von HIV?
Neben Corona hatte HIV bisher nicht viel Platz – dieses Schicksal teilen wir aber mit anderen Gesundheitsthemen. Ich beobachte aber eine verstärkte Aufmerksamkeit und auch ein besseres Wissen über Infektionskrankheiten, was das HI- und das Corona-Virus gemeinsam haben. Leider werden durch die gesamtgesellschaftliche Verunsicherung auch alte Ansteckungsängste aktiviert: Man rief uns an, um zu fragen, ob man sich mit HIV anstecken könnte, wenn man dieselbe Türklinke anfasst wie der WG-Partner.
Die Zahl der Neuinfektionen bei homosexuellen Männern soll zurückgehen, dafür bei Hetreosexuellen, Menschen ab 50 und Drogenkonsumenten zunehmen, heisst es aus Deutschland. Beobachten Sie solche Entwicklungen auch in der Schweiz?
In der Schweiz sind das eher Vermutungen, weil die Zahlen der Neuinfektionen zu klein sind, um bombensichere Tendenzen auszumachen. Die Hälfte der Neudiagnosen in der Schweiz betrifft Männer, die mit Männern Sex haben. Dennoch geht der leichte stetige Rückgang bei den HIV-Diagnosen in den letzten Jahren vor allem auf das Konto der Männer, die Sex mit Männern haben. Viele von ihnen lassen einmal im Jahr einen Test machen, da erkennt man eine Neuansteckung relativ schnell. Bei der heterosexuellen Bevölkerung hingegen ist das Testen weniger installiert, daher bleiben Infektionen oft längere Zeit unerkannt. Bei den HIV-Infektionen aufgrund Drogenkonsums profitieren wir immer noch von der liberalisierten Drogenpolitik der 90er Jahre, die dank Spritzenabgabe, Methadon- und Heroinabgabe etc. auf einen Schlag die HIV-Zahlen in dieser Risikogruppe runtergebracht hatte.
Als HIV in den Achtzigern entdeckt wurde, predigte man Kondome und Enthaltsamkeit. Heute können HIV-positive Menschen Medikamente nehmen, die auch andere schützen. Warum stecken sich noch immer weltweit jedes Jahr etwa 1,7 Millionen Menschen mit HIV an?
Über den Welt-Aids-Tag
Seit 1988 wird der Welt-Aids-Tag jährlich am 1. Dezember begangen. An diesem Tag wird dazu aufgerufen, Solidarität mit den von HIV-betroffenen Menschen zu zeigen. Denn diese leiden auch in der Schweiz noch häufig unter Diskriminierung im Alltag. Darauf will die Kampagne zum 1. Dezember der Aids-Hilfe Schweiz «Stopp Diskriminierung» aufmerksam machen. Weitere Informationen finden Sie auf der Seite von Aidshilfe Schweiz.
Sie haben recht, weltweit stagniert der Kampf gegen HIV. Ich sehe dafür zwei Hauptgründe: In vielen Ländern ist das Gesundheitssystem in schlechtem Zustand, es ist schwierig an die Medikamente heranzukommen, die monatlich doch um die 900 Franken kosten. Wer sie hat, sich dann aber nicht mehr leisten kann, trägt die Infektion weiter. Viele denken an afrikanische Länder mit schlechter Infrastruktur, aber auch in den USA oder Europa gibt es Menschen, die sich keine Krankenversicherung leisten können, somit ausgeschlossen sind aus der Behandlung. Ein zweiter Grund: Schaut man sich an, wo die Zahlen der Neudiagnosen ansteigen, sind dies momentan vor allem Osteuropa und Russland, teilweise auch Südamerika. Es sind Länder, wo Männer, die Sex mit Männern haben, kriminalisiert werden, ebenso Drogenkonsumenten oder Sexarbeiterinnen. Sie sind von Aufklärung oder Unterstützung ausgeschlossen, und so lässt man ganze Bevölkerungsgruppen, die diesem Virus besonders ausgesetzt sind, schutzlos zurück.
Für viele bedeutet die Diagnose Angst, Ausgrenzung, Ablehnung. Was beobachten Sie: Bleibt aller Aufklärung zum Trotz die Angst vor dem HIV-Stigma bestehen?
Viele Betroffene reden aus dieser Angst heraus nur mit ganz wenigen Menschen über ihre Diagnose in ihrem Umfeld. Oft wissen nur die engsten Freunde oder Familienmitglieder Bescheid, sonst niemand. Das denke ich, hat schon mit dieser Angst vor Ausgrenzung und Ablehnung zu tun. Mit Blick auf die Diskriminierungsmeldungen, die bei uns eingehen, sind die auch nicht unbegründet.
Ein Beispiel?
Ein Restaurantbesitzer, der herausfindet, dass sein Koch HIV-positiv ist und ihm deswegen kündet. Er hat Angst, Gäste zu verlieren, wenn bekannt wird, dass bei ihm ein HIV-positiver Mensch in der Küche steht. Entsprechend raten wir Betroffenen auch nicht, allen von ihrer Diagnose zu erzählen, weil es immer noch zu solcher Ausgrenzung kommt.
In vielen Zahnarztpraxen werden neue Patienten auf dem Gesundheitsformular nach einer HIV-Diagnose gefragt. Muss man seinem Zahnarzt oder seiner Zahnärztin sagen, wenn man HIV-positiv ist?
Nein. Man ist nach dem schweizerischen Gesetz nicht verpflichtet, eine HIV-Infektion anderen Personen gegenüber offenzulegen und schon gar nicht gegenüber einer Sprechstundenhilfe, die das entsprechende Formular in den Computer eintippen muss. Dass das oft gefragt wird, ist für uns ein Ärgernis. Anders wenn effektiv eine Operation durchführt wird, dann gibt es gute Gründe, um nach der Einnahme von Medikamenten zu fragen. Zudem sind die Patienten, die das ankreuzen, ziemlich sicher unter Therapie und damit nicht mehr ansteckend. Hingegen könnte es sehr gut sein, dass jemand anders von einer HIV-Infektion noch nichts weiss, die Frage verneint, jedoch seit 20 Jahren keinen Test mehr gemacht hat. Das gibt eine falsche Sicherheit – und ist für mich somit eine Diskriminierung.
Gemäss neueren Schätzungen leben in der Schweiz rund 17'000 mit HIV infizierte Menschen. Wo und wie sind wir als Gesellschaft gefordert, damit HIV-positive Menschen nicht mehr diskriminiert und stigmatisiert werden?
Informiert zu sein ist das beste Rezept. Es hilft, sich darüber schlau zu machen, was das genau für ein Virus ist, wo Gefahr besteht und wo eben nicht. Eine offene Gesprächskultur zu schaffen über Sexualität, aber auch über das Thema Krankheit. Es wird Zeit, dass wir in einer leistungsorientierten Gesellschaft etwa auch am Arbeitsplatz über Krankheit sprechen können, nicht nur wie fit und leistungsfähig man ist. Mir persönlich ist es ein grosses Anliegen, dass man aufhört, Menschen mit einer HIV-Infektion moralisch zu verurteilen. Dass man aufhört zu denken, das sei eine Person mit einem besonders liederlichen Lebenswandel oder verurteilenswürdigen Sexualverhalten. Es gibt so viele Gründe, warum sich jemand eine HIV-Infektion zugezogen hat. Unter diesen moralischen Aburteilungen leiden viele sehr.
Leiden Frauen denn besonders unter dem Stigma?
Die meisten Frauen in der Schweiz, die sich mit HIV infizieren, stecken sich innerhalb einer festen Beziehung an – beim festen Partner, zu dem sie ein Vertrauensverhältnis haben. Sie leiden sehr stark darunter, wenn andere sie zu Unrecht für einen liederlichen Lebenswandel verurteilen. Sie fühlen sich betrogen, für sie ist eine Welt zusammengebrochen. Wir müssen uns doch als Gesellschaft mit diesen moralischen Urteilen über das Sexualverhalten anderer Leute zurückhalten.