Futuristische Food-Trends «Das ist Frankenstein Food 2.0, das auf uns zukommt»

Von Sulamith Ehrensperger

22.9.2020

Frisch designt: Die Züchtung von In-vitro-Fleisch aus Zellkulturen ist noch nicht massentauglich, doch die Entwicklung schreitet in schnellen Schritten voran. 
Frisch designt: Die Züchtung von In-vitro-Fleisch aus Zellkulturen ist noch nicht massentauglich, doch die Entwicklung schreitet in schnellen Schritten voran. 
Bild: Getty Images

Fleisch, Kaffee und Milch aus dem Bioreaktor: Gehört dem Essen aus dem Food-Design-Labor die Zukunft? Kulinarikexperte Patrick Zbinden über die schönen und unschönen Auswüchse zukünftiger Nahrungsmittel.

Herr Zbinden, gehört dem Essen aus der Laborküche die Zukunft?

Tatsächlich wird in vielen Labors gerade die Nahrung neu erfunden. Weltweit liefern sich zahlreiche Start-ups ein Wettrennen um Nahrungsmittel der Zukunft. Ob In-vitro-Fleisch oder Fisch, Eier und Milch aus dem Bioreaktor: Seit vielen Jahren wird daran geforscht und vieles steht nun vor der Markteinführung.

Was wie Science-Fiction klingt, wird nun also Realität. Schmeckt Essen aus dem Bioreaktor wirklich lecker?

Das Vorbild sind Lebensmittel aus der Natur, das Ziel sind jedoch tierfreie Produkte, die gleich gut schmecken wie das Original. Denn nur wer Produkte designt, die wirklich gut sind, hat eine Chance zu bestehen. Entsprechend muss pflanzenbasierte wie tierische Kuhmilch schmecken, auch wenn die Milch nicht mehr von Kühen, sondern von gentechnisch optimierten Organismen produziert wird.

Das Stichwort hierfür heisst ‹Synthetische Biologie› – wie funktioniert diese? 

Man versucht in Grosslabors Nahrungsmittel mithilfe von Hefe- oder Pilzzellen beziehungsweise mit Bakterien zu produzieren und zu imitieren. Ohne Tiere dafür zu halten oder zu töten, können mit dieser Technik nicht nur Milch, Fisch und Fleisch hergestellt werden, sondern auch Produkte wie zum Beispiel Leder.

Synthetische Biologie
Getty Images

Unter den Begriff Synthetische Biologie fallen verschiedene Ansätze, die das Ziel verfolgen, neuartige biologische Systeme zu erschaffen. Wissenschaftler aus verschiedenen Fachrichtungen arbeiten hierfür zusammen daran, biologische Systeme wie Zellen, Moleküle, Gewebe und Organismen mit neuen, definierten Eigenschaften zu entwickeln, die in der Natur so nicht vorkommen. Inzwischen kann die Synthetische Biologie auch für Lebensmittel und Konsumgüter genutzt werden.

Die Spielwiese der Synthetischen Biologie scheint grenzenlos zu sein. Was kommt sonst noch auf uns zu?

Selbst Muttermilch lässt sich in Zukunft im Bioreaktor herstellen. Zumindest wenn es nach dem Willen dreier Frauen eines Start-ups geht, die ‹Cultured Breastmilk›, also synthetisch produzierte Muttermilch, anbieten möchten. Gemäss ihrem Geschäftsmodell lassen sich mithilfe von Mikroorganismen die über 2'500 Stoffe der Muttermilch in einem Bioreaktor nachbauen. Gespannt darf man auch auf das Potenzial von Hybridfleisch sein. Diese Bezeichnung steht für Fleischalternativen, welche die im Bioreaktor gewachsenen Fleischzellen mit pflanzlichen Proteinen kombinieren.

Werden solche Nahrungsmittel-Imitationen tatsächlich auf Akzeptanz stossen?

Egal, ob natürliche Bakterien und Hefen oder solche, die über die Jahrhunderte gezüchtet wurden: Mikroorganismen werden schon seit Urzeiten für die Lebensmittelherstellung genutzt. Und längst essen wir Vitamine oder Lebensmittel, die in grossen Bioreaktoren entstanden sind.

In diese Kategorie gehört beispielsweise auch das beim Grossverteiler oder in Kantinen angebotene ‹Quorn›. Dieser Fleischersatz basiert auf einem Pilz, dessen Wachstum unter anderem mithilfe von Traubenzucker und Mineralien angeregt wird. Für solche oder ähnliche im Bioreaktor gewachsene Nahrungsmittel braucht es keine Ackerflächen, keinen Bauern und keine Jahreszeiten mehr. Obwohl nur die Wenigsten wissen, wie Quorn gemacht wird, ist das Nahrungsmittel längst in aller Munde. Deshalb befürchte ich, dass auch zukünftige Produkte, die aus dem Bioreaktor kommen, unreflektiert gegessen werden.

Bakterien, Hefen oder Pilze produzieren zukünftig also unsere Nahrungsmittel: Aber wer will schlussendlich solche Nahrung?

Eine Generation von Konsumentinnen und Konsumenten, die selbstoptimiert, sprich gesundheitsbewusst und nachhaltig leben will. Entsprechend hat diese Zielgruppe ein offenes Ohr für Anbieter von Nahrungsmitteln, die einem eine bessere ‹Performance› versprechen und gleichzeitig den nachhaltigen Lifestyle befriedigen.

Ob Discounter oder Grossverteiler: Die Nachfrage nach Fleischersatzprodukten wie Vegi-Burger oder Soja-Gehacktem zieht merklich an. Das grösste Marktpotenzial haben vermutlich Fleischersatzprodukte.

Unbestritten ist der Konsum von tierischen Produkten nach wie vor zu hoch. Egal, aus welchen Gründen man auf tierische Lebensmittel gänzlich oder teilweise verzichten möchte: Die meisten sind auf der Suche nach Alternativen zu Fleisch, Fisch und Co. Viele Start-ups aber auch etablierte Nahrungsmittelkonzerne sehen hier neue Geldquellen, die sich öffnen. Es scheint, als sei der zukünftigen Produktion von Nahrungsmitteln keine Grenzen gesetzt.

Zur Person
Bild: Peter Würmli

Patrick Zbinden ist Lebensmittel-Sensoriker und Trendforscher. Er publiziert als freischaffender Food-Journalist in verschiedenen Kulinarikmagazinen. Zbinden unterrichtet und referiert zu den Themen Essen und Trinken unter anderem an der Hotelfachschule Luzern oder bei Gastrosuisse.

Essen ist immer mehr auch ein Ausdruck individueller Wertehaltungen.

Das interessante dabei ist, dass mit den Alternativprodukten eigentlich eine Zielgruppe angesprochen wird, die meint, sie reflektiere Nachhaltigkeit, Tierliebe und Gesundheit besonders. Jedoch sind sich die wenigsten bewusst, welche Industrie-Maschinerie sich da gerade aufbaut. Hier kommt Frankenstein Food 2.0 auf uns zu, das im Bioreaktor entsteht und anschliessend baukastenartig neu zusammengesetzt wird. Leider findet diesbezüglich ein gesellschaftlicher Diskurs kaum bis gar nicht statt.

Weshalb sind Nahrungsmittel, die mit Synthetischer Biologie produziert werden, nicht häufiger im Fokus der Öffentlichkeit?

Die Start-ups und Forscher, die an synthetisch-biologisch hergestellten Nahrungsmitteln tüfteln, sprechen von ‹Biohack›, wenn sie beispielsweise ein Bakterium verändern. Diese Forscher sind aber nicht wie früher im weissen Labormantel unterwegs, sondern es sind Nerds, die in geräumigen Lofts arbeiten und dafür von Investoren Geld bekommen. Solche Start-ups werden nicht als ‹böse Industrie, die uns was aufdrücken will› wahrgenommen, sondern als Weltverbesserer. Mit Kunstfleisch, das im Bioreaktor wächst, ermöglichen sie einen Fleischkonsum ohne schlechtes Gewissen. Ein Start-up etwa produziert Foie Gras auf Basis von Eizellkulturen – keine einzige Gans muss dafür gestopft werden.

Das hört sich doch eigentlich ganz toll an.

Das Heikle an dieser Thematik ist, dass dieser ‹Biohack› der Mikroorganismen meist Hand in Hand mit Gentechnologie geht. Das heisst Hefe, Bakterium oder Pilzmycel müssen dazu gebracht werden, dass sie einen bestimmten Stoff produzieren und dies geht längst nicht mehr über herkömmliche Zuchtmechanismen. Das Verfahren des ‹Biohackings› ist längst bei der Herstellung von Medikamenten anerkannt und etabliert sich nun im Foodbereich. Welche längerfristigen Auswirkungen solche neu kreierten Mikroorganismen auf unseren Körper oder auf die Umwelt haben, sind aber längst nicht geklärt.

Nahrung aus dem Bioreaktor kommt erst noch auf unsere Teller, Fertigkost hingegen ist längst Teil unserer Esskultur. Doch offenbar wissen die wenigsten, wie die Industrie unser Essen produziert und woher die Zutaten kommen.

Tatsächlich stelle ich immer wieder fest, dass längst nicht alle wissen, wie bestimmte Lebensmittel wachsen, beziehungsweise wie sie produziert werden. Insbesondere gilt dies für industriell verarbeitete Nahrung wie zum Beispiel Cornflakes: Sie sind zwar häufig Teil des Frühstücks, aber ihre Entstehungsgeschichte ist vielen Leuten unklar.

Vor über 100 Jahren wurden die Cornflakes zufällig von Arzt John Harvey Kellogg erfunden, heute gehören sie wohl zu den beliebtesten Frühstückszerealien überhaupt. Klären Sie mich auf: Woher kommen Cornflakes?

Wie viele andere industriell verarbeiteten Lebensmittel kommen auch Cornflakes aus dem Extruder, eine Maschine, die ursprünglich für die Produktion von Kunststoffrohren erfunden wurde. Für Cornflakes wird statt Kunststoff eine Mischung basierend auf Maisstärke in die Maschine eingefüllt. Im Innern des Extruders wird das Maisstärkegemisch verdichtet und erhitzt. Schlussendlich kommt am Ende der Maschine kein Kunststoffrohr heraus, sondern Cornflakes.

Längst nicht alle wissen, wie alltägliche Lebensmittel produziert werden. Insbesondere gilt dies für industriell verarbeitete Nahrung, wie zum Beispiel Cornflakes.
Längst nicht alle wissen, wie alltägliche Lebensmittel produziert werden. Insbesondere gilt dies für industriell verarbeitete Nahrung, wie zum Beispiel Cornflakes.
Bild: Getty Images

Viele sehen Insekten als Zukunft der Welternährung. Doch offenbar setzt sich dieser Trend bei uns nicht durch. Wo ist der Wurm drin?

Ich glaube, da ist ein Kommunikationsfehler passiert. Man hätte nicht mit Insekten als Kaufargument werben sollen, sondern mit dem aus Insekten gewonnenen Eiweiss. Mit Eiweiss anreicherte Lebensmittel haben sich längst als Trend durchgesetzt, dies obwohl interessanterweise niemand fragt, woher das Eiweiss kommt. Entsprechend hätte in solchen Produkten isoliertes Insekteneiweiss durchaus eine Chance.

Geben Sie uns zum Schluss noch einen Vorgeschmack: Wohin geht die Reise?

In Tokio bietet ein Restaurant 3D-gedrucktes Sushi, das ‹hyper-personalisiert› auf die Gesundheits- und Nährstoffbedürfnisse jedes Gastes abgestimmt ist. Ein Start-up aus Seattle verspricht einen Kaffee zu machen, ohne auch nur eine einzige Bohne dafür ernten zu müssen. Deren Grundlage sind unter anderem Sonnenblumenkerne, der Rest ist Molekularchemie. Es braucht keine Zugabe von Milch oder Zucker, denn der Molekular-Kaffee ist frei von Bitterstoffen.

Wie ernähren Sie sich?

Während meiner Ausbildung in den 1990er-Jahren hatte ich ein Professor, der der Meinung war: Je verarbeiteter ein Produkt, desto mehr sollte man die Finger davon lassen. Zurzeit reden alle von ‹Nutri-Score›, der vereinfachten Nährwertkennzeichnung mit Ampelsystem, aber meiner Meinung nach sollte auf jedem Produkt stehen, wie hoch sein Verarbeitungsgrad ist. Denn je mehr Inhalts- und Zusatzstoffe in einem Nahrungsmittel enthalten sind, desto komplizierter kann es für unser Verdauungs- und Immunsystem werden. Daran halte ich mich beim Einkaufen.



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