Justin Murisier erringt in der Abfahrt in Beaver Creek, Colorado, seinen ersten Weltcup-Sieg. Die Premiere entschädigt für vieles.
Abfahrt, das war in der zweiten Hälfte der vergangenen Saison vorab das Duell zwischen Odermatt und Cyprien Sarrazin. Einen Zweikampf gabs auch diesmal, einen teaminternen allerdings, den Murisier gegen Odermatt mit zwei Zehnteln Vorsprung für sich entschied.
«Es ist gerade schwierig, meine Emotionen im Griff zu haben», sagte Murisier mit Tränen in den Augen im Zielraum der Piste Birds of Prey. «Es ist einfach nur schön, noch schöner, als ich es mir habe vorstellen können.» Odermatt wäre seiner Favoritenrolle natürlich liebend gerne gerecht geworden. «Doch wenn schon Zweiter, dann hinter einem Kollegen, einem wie Justin, der sich nach seiner unglaublichen Leidensgeschichte diesen Erfolg mehr als verdient hat.»
Die dicke Krankenakte
Mit Murisier siegte einer, der die Schattenseiten seines Berufs zur Genüge hat kennenlernen müssen, der meist im Schatten anderer sich bewegt hat, dessen Krankenakte um einiges dicker ist als die Bilanz sportlicher Erfolge, in der er bisher einen Podestplatz im Weltcup stehen hatte. Vor vier Jahren hatte er im Riesenslalom in Alta Badia Rang 3 belegt.
Das Pech hatte im September vor dreizehn Jahren seinen Lauf genommen – mit dem ersten von drei Kreuzbandrissen im rechten Knie als schlimmste von vielen schmerzlichen Erfahrungen. Passiert wars beim Fussballspielen während eines Zusammenzugs in Zermatt. Der zweite Tiefschlag liess nicht lange auf sich warten. Elf Monate danach war Murisier nach einem Zwischenfall während der Vorbereitung in Ushuaia im Süden Argentiniens mit derselben Verletzung wieder ausser Gefecht gesetzt. Zwei Saisons in Folge war er dadurch von den Rennpisten verbannt. Und vor sechs Jahren schliesslich schlug die Verletzungshexe im Trainingscamp in Ohau in Neuseeland an derselben Stelle nochmals zu.
Das rechte Knie beschäftigte Murisier auch im letzten Juni. Die drei Kreuzbandrisse hatten Knochenauswüchse verursacht, die eine Arthroskopie erforderten. Der Eingriff wiederum führte dazu, dass sich der Walliser in Ushuaia und in Portillo in Chile nicht in gewünschtem Rahmen Schwung für die neue Saison holen konnte. Keine einzige Fahrt habe er ohne Schmerzen hinter sich bringen können, erzählte Murisier.
Und selbst im unmittelbaren Vorfeld der Abfahrt vom Freitag hatte Murisier seinen Schreckmoment. Im ersten Training kugelte er sich unterwegs die linke Schulter aus, die sich glücklicherweise von selber wieder einrenkte. Auch diese Probleme seien nichts Neues, berichtete der Leidgeplagte.
Die hochverdiente Belohnung
Und nun das – dieser Tag, sein Tag, den sich Murisier so sehr gewünscht hatte, den er sich so redlich verdient hat wie kein anderer. Dieser Sieg steht für Belohnung für Durchhaltewillen, nie endenden Kampfgeist, den selbst nach Rückschlägen nie versiegenden Glauben an die eigenen Fähigkeiten – und die stete Hoffnung auf die Wende zum Guten.
Murisier ist endlich dort angelangt, wohin er es ohne die vielen Gebrechen wohl schon lange zuvor geschafft hätte. Zu Beginn seiner Karriere schien es nur eine Frage der Zeit bis zum Durchbruch, zum Durchmarsch an die Spitze. Der Hochbegabte war in jenem Alter in seiner Entwicklung weiter als etwa Marcel Hirscher oder Alexis Pinturault. Der Franzose erinnerte sich einmal daran, wie sie damals zum Walliser hochgeschaut hätten.
An diesem besonderen Tag in Beaver Creek schauten nicht nur der nach seinem Kreuzbandriss rekonvaleszente Österreicher und Pinturault, der an diesem Wochenende wohl erst im Riesenslalom nach überstandenem Kreuzbandriss auf die Rennpiste zurückkehren wird, zu Murisier auf.
Zum ersten Mal gehörte die grosse Bühne ihm, der fast 33 Jahre alt werden musste, um dieses Gefühl endlich einmal auskosten zu dürfen. Es soll nicht das letzte Mal gewesen sein. Murisier scheint bereit – auch für weitere Duelle mit Kumpel Odermatt.