«Tatort»-Check Wie viele Langzeit-Vermisste gibt es in Deutschland und der Schweiz?

tsch

17.1.2021

Im Stuttgarter «Tatort»-Krimi «Das ist unser Haus» suchten die Kommissare Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) nach einer verschwundenen Frau. War sie die Leiche am Fundament eines alternativen Wohnprojekts? Ist ein solches Verschwinden realistisch?

Zwei Themen wurden im zweiten Stuttgarter «Tatort»-Krimi «Das ist unser Haus» verhandelt: Kann man in einer Erwachsenen-WG so zusammenleben, dass es Spass macht, und ist es eigentlich möglich, einfach zu verschwinden und keine Spuren zu hinterlassen?

Worum ging es?

Gerade mal vier Wochen ist es her, dass die alternative Baugemeinschaft «Oase Ostfildern» in ihren Neubau mit Gemeinschaftsbereich eingezogen ist. Schon muss wegen eines Abdichtungsproblems das Fundament wieder aufgebaggert werden. Zum Vorschein kommt eine Leiche. Die Gerichtsmedizin identifiziert sie als Frau von etwa 40 Jahren, viel mehr weiss man zunächst nicht. Lannert (Richy Müller) und Bootz (Felix Klare) erhalten Hinweise darauf, dass es sich bei der Toten um eine ehemalige Bewerberin beim Wohnprojekt handeln könnte. Tatsächlich ist «Beverly» unauffindbar ...

Wie viele Vermisstenfälle gibt es in Deutschland?

Zu Beginn ihrer Ermittlungen versuchen die Kommissare, die etwa ein Jahr alten sterblichen Überreste ihrer Leiche mit Fakten zu vermissten Frauen aus der Region zusammenzubringen – ohne Erfolg. Mal ist eine Vermisste längst wieder aufgetaucht, mal passt die Statur nicht. Das BKA meldete zum 1. März 2020 etwa 9200 Menschen in Deutschland als vermisst. Täglich kommen 200 bis 300 neue Suchmeldungen hinzu. Etwa ebenso viele Fälle werden pro Tag wieder gelöscht. 50 Prozent der Vermisstenfälle klären sich binnen einer Woche auf, innerhalb eines Monats sind es 80 Prozent. Nur drei Prozent der Gemeldeten bleiben länger als ein Jahr vermisst.

50 Jahre «Tatort»: Interview mit Regisseur Florian Froschmayer

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Und wie viele Vermisstenfälle gibt es in der Schweiz?

Im Rahmen einer Recherche der «Sonntagszeitung» 2018 meldeten
13 Kantone für das vorangegangene Jahr 3354 Personen als vermisst. Die Hochrechnung für die gesamte Schweiz ergab 4700 Vermisste pro Jahr – das wären knapp 13 pro Tag. Nach weniger als drei Prozent der Vermissten wurde öffentlich gefahndet. Ungeklärt bleiben etwa 200 Fälle pro Jahr, also etwas mehr als vier Prozent der jährlich Verschwundenen.

War die Suche nach «Beverly» realistisch?

Alle kannten Wohngruppen-Bewerberin Beverly, doch plötzlich ist sie weg – und Jahre später von der Polizei unauffindbar. Realistisch? Im Projekt sprachen sich alle mit Vornamen an, keiner kannte Beverlys Nachnamen. Zudem besass sie ein mittlerweile stillgelegtes Prepaid-Handy, weist keinerlei «Netzaktivitäten» auf und war – wegen eines Jahres in Asien – nirgendwo gemeldet. Nur über eine Bild-«Rückwärtssuche» und die Identifikation des Fotografen eines Bewerbungsfotos kommen die Kommissare schliesslich zum Ziel. Es ist nicht einfach, im Deutschland des Jahres 2021 zu verschwinden und trotzdem ein «normales» Leben zu führen. Der «Tatort» zeigt, wie es gehen könnte.

Woher stammt die Idee zu «Das ist unser Haus»?

Filmemacher Dietrich Brüggemanns Drehbuch-Co-Autor Daniel Bickermann lebt selbst in einem solchen Wohngruppen-Kollektiv – und ist für die Idee verantwortlich. «Er hat immer so interessante Geschichten mitgebracht, was dort alles abgeht. Und nach der fünften interessanten Geschichte habe ich zu ihm gesagt: ‹Das ist doch eigentlich ein Tatort›», berichtet Brüggemann. Übrigens: Schon Brüggemanns letzter Stuttgarter «Tatort» beruhte auf persönlicher Erfahrung. «Weil wir in Stuttgart immer wieder im Stau standen, ist die Idee für den ‹Tatort: Stau› entstanden.» 2018 gab es für die Krimi-Idee, dass der Fahrerflucht-Mörder einer 14-Jährigen auf der chronisch verstopften Ausfallstrasse «Neue Weinsteige» im Stau gefangen sein muss, eine Grimmepreis-Nominierung.



War das Drehbuch auf Schwäbisch?

Brüggemann, der selbst in Stuttgart und Umgebung aufgewachsen ist, kann tatsächlich Schwäbisch. Das Drehbuch verfasste er jedoch auf Hochdeutsch und holte sich ein paar Schauspieler, die «regionale Zungen» beherrschen. Er sagt: «Man kann im Dialekt ganz anders zur Sache kommen als in der sogenannten Hochsprache. Und im Film geht es doch darum, Menschen aufs Maul zu schauen und sie zu verstehen. Andererseits wollte ich auch keinen reinen Mundartfilm machen.» Die «schwäbischste» Rolle von allen, eine Mutter zweier kleiner Mädchen im Wohnprojekt, wird übrigens von Anna Brüggemann gespielt, der Schwester des Filmemachers.

Wie ist man auf die Idee der Verfolgungsjagd mit dem Fahrrad gekommen?

«Die Idee mit dem Fahrrad stand nicht im Drehbuch, sie entstand ganz spät während der Vorbereitung der Dreharbeiten», sagt Brüggemann. Eigentlich stand im Script lange eine andere Showdown-Szene, die er jedoch nie so richtig überzeugend fand. «Verfolgungsjagden gehören zu den Filmformeln – so wie die Schlägerei oder die Liebesszene. Doch Formeln haben die Tendenz, langweilig zu werden, wenn man ihnen zu sehr folgt.» Die Fahrrad-Verfolgungsjagd passte laut Brüggemann «zum Topos der WG, den wir erzählen». Und dass man mit einem Fahrrad bei Verfolgungsjagden eben auch Autos austricksen kann, sei «doch auch mal eine schöne Erkenntnis».

Wer sind die ungewöhnlichen Schauspieler?

Selten sah man so viele ungewöhnliche Schauspieler in einem Ensemble-«Tatort». Es spielten: die Musikerin Christiane Rösinger (früher bei den Lassie-Singers), Songwriterin Désirée Klaeukens, mit der Brüggemann selbst das Musikduo «Theodor Shitstorm» unterhält oder – in einer durchaus überzeugenden Gastrolle – Songwriter Heinz Rudolf Kunze. Auch der von seiner Frau getrennt lebende Mitbewohner Udo ist in Wahrheit kein Schauspieler. Ihn verkörpert Oliver Gehrs, ein Journalist und Bekannter Dietrich Brüggemanns – der genau «so einen Typ wie ihn» für die Rolle suchte.

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