TV-Kritik «Motel»: Deprimierungsfaktor 10

Von Gion Mathias Cavelty

4.7.2020

Nach 36 Jahren hat TV-Experte Gion Mathias Cavelty ein Wiedersehen mit der Schweizer Kultserie «Motel». Sein Protokoll.

Nur schon das Wort «Motel» reicht, und eine Ganzkörperlähmung überkommt mich. Alles wird bleischwer, grau und trist. Vor meinem inneren Auge erscheint eine regennasse Autobahn nach nirgendwo.

Dabei war ich erst zehn Jahre alt, als ich die Serie am Rande mitbekam. 1984 war das. Trotzdem hat sich mir diese Anfangssequenz ins Gedächtnis eingebrannt. Ich kannte natürlich alle Chasperli-Hörspiele mit Jörg Schneider auswendig, wie alle Kinder in meinem Alter.

Doch der Jörg Schneider in «Motel» – nein, das war kein fröhlicher Geselle. Alles andere als das. Und dann die Schockszenen! Der Chasperli (respektive Koni Frei, wie Schneider in der Produktion heisst) im Bett mit einer nackten Frau! Von der man die Brüste und die Brustwarzen sah!

Der Chasperli, wie er eine minderjährige Auszubildende küsst! Zwei Männer, die knutschen! Über all das tuschelte man am Montagmorgen auf dem Pausenplatz. Wobei ich die zwei knutschenden Männer glaube ich gar nie gesehen habe. Die Brüste von Silvia Jost aber schon!

Das war … einfach zu viel für einen Viertklässler aus einer Bündner CVP-Familie wie mich. (Gerade frage ich mich: Wieso lief das Ganze bei uns zu Hause überhaupt?)

Ab dem 4. Juli werden die 40 Folgen von «Motel» im Schweizer Fernsehen wiederholt – und ich weiss nicht so recht. Soll man sich das tatsächlich noch einmal anschauen? Auch wenn man kein – sagen wir mal – volkskundlerisch-wissenschaftliches Interesse daran hat?

Ich lasse es darauf ankommen und sehe mir die 1. Folge vorab an. Hier mein Protokoll:

Sekunde 0: Die Titelmelodie setzt ein – typischer Schweizer-Mittelland-Depro-Blues. Ah nein, Pardon: Das sind ja die Dire Straits. Und da ist sie auch schon im Bild zu sehen: die grässliche Autobahn, Symbol der totalen Hoffnungslosigkeit. Ich fühle mich schon wieder hundsmiserabel.

Sekunde 51: Jörg Schneider trifft mit der SBB in Egerkingen ein. «Lass alle Hoffnung fahren», hätte Dante gesagt. In Egerkingen ist es kalt, Schneider friert. Mit drei Koffern tschumpelt er Richtung Motel. Nicht Bates Motel aus Alfred Hitchcocks «Psycho», sondern schlimmer: Motel Agip.

Minute 2.10: Schneider trifft zum ersten Mal auf die Rezeptionistin, gespielt von Silvia Jost (in der Serie als «Gouvernante» bezeichnet). Diese bittet einen (ganz offensichtlich) türkischen Angestellten namens Özel, Schneider mit seinen Koffern zu helfen. Es entspinnt sich folgender Dialog:

Jörg Schneider: Ah, Sie sind de Özel! Grüezi! Min Name isch Frei, ich bi de neui Chuchischef. Il nuovo capo della cucina. Non capito? Español?

Özel: Türke.

Jörg Schneider: Ah, Türk sind Sie, lueg au da!

Ui. Darf man sowas noch senden? Nach dem ganzen ... Sie wissen schon, in letzter Zeit? Wo sich seit neuestem sogar Viktor Giacobbo für seinen Rajiv schämt?

Minute 4.30: In Egerkingen ist es kalt und es schneit.

Minute 5.30: Das Zimmer von Jörg Schneider ist deprimierend, die weisse Ziegelsteinwand ist sogar sehr deprimierend. Das Bett ist unbequem und quietscht, es ist einfach deprimierend. Schneider betrachtet ein Foto eines blonden Kindes (ob Mädchen oder Junge ist unklar), das er mitgebracht hat. Dahinter steht bestimmt eine brutal deprimierende Geschichte.

Minute 6.30: Schnitt in die Motel-Küche. Deprimierende Männer-Oberlippenbärte. Deprimierendes Klopfen auf Schnitzel. Zum ersten Mal erscheint Peperoni, der Küchenbursche, gespielt von Dani Levy. Der Name Peperoni soll wohl lustig klingen, so farbtupfermässig, ist aber eigentlich nur deprimierend, wenn man ehrlich ist. Es fallen deprimierende Sätze wie «Studer isch mi Name» oder «Schmid», als sich Schneider der Brigade vorstellt.

Minute 9.30: In Egerkingen ist es kalt und es schneit. Schneider schaut auf ein graues Flüsschen und isst eine Marroni. Er trifft Silvia Jost und offeriert ihr auch eine Marroni. Dialog:

Silvia Jost (auf der Marroni herumkauend): Mm ... echli härt ...

Jörg Schneider: Ja, sind alle so.

Silvia Jost (nach einer Pause): Also … i sött.

Jörg Schneider: In däm Fall na en schöne Tag.

Silvia Jost: Uf Wiederluege, Herr Frei.

Jörg Schneider: Wiederluege, Frau Brunner.

Etwas Niederschmetterndes habe ich noch nie gehört und gesehen.

Minute 12.20: Es kommt heraus, dass Jörg Schneider einem schmierigen Typ mit Schnauz (gespielt von Hansjörg Bahl) 9'000 Franken schuldet. Dieser erpresst ihn mit einem inkriminierenden Foto. In seinem Zimmer bekommt Schneider einen Anruf von einer Marlies, es geht um eine Scheidung. «Irgendwie müemer halt beidi wieder en Wäg finde – du dine und ich mine», stammelt er unter Tränen. Dann schüttet er mit zitternden Händen eine Flasche Cognac ins Lavabo.

Minute 20.20: In der Motel-Küche wird u.a. Rosenkohl gekocht, das deprimierendste aller Gemüse. Alle laufen mit goldenen Karton-Kronen auf dem Kopf herum, denn heute ist der 6. Januar und alle sind (durch einen Streich von Peperoni) König geworden. Es ist fast schon so deprimierend, dass man lachen muss. Aber eben: nur fast.

Könnte SRF im Jahre 2020, das bislang bekanntlich keinen besonders fröhlichen Verlauf nahm, nicht etwas Erheiternderes wiederholen als «Motel» mit dem Deprimierungsfaktor 10? Vielleicht etwas mit Deprimierungsfaktor 9? Danke.

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