30 Jahre Platzspitz-Räumung «Platzspitzbaby»-Autorin: «Komm, hau ab mit deinem Gspürschmi-Fühlschmi-Mist»

Von Fabian Tschamper

8.1.2020

Bestseller-Autorin Michelle Halbheer nagte lange an den Ereignissen in ihrem Leben. «Platzspitzbaby» in Buch- und Filmform half ihr, diese zu verarbeiten.
Bestseller-Autorin Michelle Halbheer nagte lange an den Ereignissen in ihrem Leben. «Platzspitzbaby» in Buch- und Filmform half ihr, diese zu verarbeiten.
Bild: Martin U.K. Lengemann

Der Film «Platzspitzbaby» wurde durch Michelle Halbheers Geschichte inspiriert. Ein Gespräch über Drogensucht, fehlende Mutterliebe und den Weg zurück ins Leben.

Transparenz-Hinweis: Dieses Interview mit Michelle Halbheer erschien zum ersten Mal am 8. Januar 2020. Zum 30. Jahrestag der Räumung des Platzspitz wurde es nun wiederveröffentlicht.


Der Platzspitz war in den 1980ern und 1990ern die grösste offene Drogenszene der Welt. Autorin Michelle Halbheer erlebte jenen teils in frühster Kindheit zusammen mit ihrer drogensüchtigen Mutter. Im November 2013 veröffentlichte Halbheer darum ihre Autobiografie «Platzspitzbaby». Bereits im Dezember desselben Jahres erreichte sie mit dem Buch Platz eins der Bestsellerliste Sachbuch.

2020 wurde der Stoff zu einem Film verarbeitet. Jener erzählte allerdings nicht Halbheers Biografie, sondern sollte einen Einblick in das Leben der Kinder und Drogensüchtigen des Platzspitzes geben – und jene Kinder wieder ins kollektive Gedächtnis rufen.

Frau Halbheer, Sie haben für den Film auch Originalschauplätze besichtigt, wie war das?

Das war wirklich heavy.

Inwiefern?

Bei einem Schauplatz lief mir gegen Ende eine alte Schulfreundin entgegen, der ich von Weitem schon das schwere Suchtproblem ansah. Sie ist mir um den Hals gefallen (seufzt). Was will man machen? Man muss sich in solchen Momenten einfach am Kragen packen und sich aus dem Sumpf ziehen. Sich sagen: Du stehst jetzt hier, und es ist nicht mehr wie damals. Mein Partner war bei jedem dieser Momente dabei, er ist eine riesige Stütze. Er holt mich in die Gegenwart zurück.



Sind Sie mit dem Film zufrieden?

Er ist sehr authentisch, was das Leben von Kindern Süchtiger betrifft. Mir war da bei der Entstehung auch wichtig, dass ich Erlebnisse von Freunden einfliessen lassen durfte. Das heisst, es geht nicht um mich, sondern ums Erlebte innerhalb dieser Problematik. Darum fand ich ihn wirklich überaus gut.

Wie sah Ihr Einfluss darauf aus?

Am Anfang wurde der Kontakt zwischen Regisseur Pierre Monnard und mir hergestellt, er hat daran geglaubt und wollte das Projekt umsetzen. Die Ereignisse sind alle kompakt, und mir ging es nicht darum, unbedingt mich selber zu sehen. Wir wollten noch tiefer in die Thematik – auch für die Menschen, die nicht gerne lesen. So werden mehr Zielgruppen erschlossen, die sich mit dem Problem auseinandersetzen.

Der Ideenaustausch war ein Pingpong. Ich habe eng mit Regisseur und Drehbuchautor zusammengearbeitet, das Schauspielern war dann freier. Mit den Protagonistinnen hatte ich einfach Kontakt, als es ums Kennenlernen ging. Ich durfte aufs Set und sah, wie das Ganze umgesetzt wird. Sie haben mich aber während des Drehs immer wieder gefragt, ob ich bei gewagten Szenen guten Gewissens dahinterstehen kann. Ich durfte auch Nein sagen.

Vor unserem Interview wurde mir von den Verantwortlichen eingetrichtert, dass der Film ‹Platzspitzbaby› keine Buchadaption sei. Es habe den Film lediglich inspiriert. Warum ist Ihnen diese Unterscheidung so wichtig?

Weil es eben Szenen gibt, die nicht mir passiert sind, sondern Freunden von mir. Mir ist immer wichtig, dass ich glaubhaft und authentisch bleibe. Wenn im Film irgendetwas passiert, das mir nicht eins zu eins so widerfahren ist – ich die Unterscheidung zum Buch aber nicht mache, dann laufe ich Gefahr, dass die Glaubhaftigkeit von Kindern von Süchtigen verloren geht. Das will ich nicht.

Weil das genau ins Klischee spielt: Die Situation der Kinder wird nur so schlimm, weil ihnen nicht geglaubt wird. Der Film sollte sich nicht um mich drehen, sondern um diese Kinder.

Dann hatte die Ähnlichkeit der Kinderdarstellerin Luna Mwezi nichts mit Ihnen zu tun?

Dass Luna mir so gleicht, ist purer Zufall (lacht). Aber es war schon ein bisschen unheimlich, als ich sie zum ersten Mal traf. Als würde ich damals in einen Spiegel schauen.

Sie haben Ihre Kindheit im Buch verarbeitet. Das war 2013. Vor zwei Jahren folgte noch ein Film. Wäre es fürs eigene Wohl nicht besser gewesen, dieses Thema zu begraben? Oder: Warum tun Sie dies nicht?

Sehr gute Frage. Einerseits habe ich das eine Zeit lang gemacht. Liess die Medienwelt hinter mir. Ich lernte damals sehr viel über Achtsamkeit – wie ich mich selber wahrnehme, meine eigenen Bedürfnisse, und ich habe dann gemerkt, dass ich nicht ganz weg möchte von diesem Thema.

Ähnlich wie mit einem Talent wäre es schade, wenn ich es einfach wegschmeissen würde. Ein Talent soll man lernen einzusetzen – nicht bis zum Umfallen natürlich, Balance ist wichtig. Achtsamkeit war der Schlüssel dafür.

Gab es dabei auch Stolpersteine?

Natürlich gab es dabei auch Tage, an denen ich mich überfordert habe. An denen ich zu lange in meiner Vergangenheit verweilte. Ich konnte meine heutige Realität nicht mehr wahrnehmen. Aber das musste ich halt lernen.

Wenn die eigene Lebensgeschichte so viel Aufmerksamkeit generiert, dann kann das positiv sein, aber eben auch negativ. Automatisch legt sich der Fokus dann auch auf die Punkte, die man als Mensch nicht verarbeitet hat. Zum Beispiel als mein Vater versucht hat, sich auf der Toilette das Leben zu nehmen: Jedes Mal fing ich an zu weinen, als ich diese Geschichte an Vorlesungen oder Ähnlichem erzählt habe. Das ging mir zu nahe, ich habe aber lange nicht verstanden, warum. Es ist doch vorbei!

Im Film spielt die Mutter-Figur eine grosse Rolle. Haben Sie im echten Leben noch Kontakt zu Ihrer?

Nein, ich habe keinen Kontakt mehr zu ihr.

Michelle Halbheer als Kind: Sie war selbst überrascht, wie ähnlich die Kinderdarstellerin Luna Mwezi ihr im Film «Platzspitzbaby» wirklich sieht.
Michelle Halbheer als Kind: Sie war selbst überrascht, wie ähnlich die Kinderdarstellerin Luna Mwezi ihr im Film «Platzspitzbaby» wirklich sieht.
Bild: Privatarchiv/zVg

Warum nicht?

Es können nicht alle Menschen damit umgehen, dass Medien unterschiedlich berichten. Es gab ein Medium, das es aufgrund des Titels «Platzspitzbaby» schön gefunden hätte, dass ich auf dem Platzspitz stehe und erzähle: ‹Hier bin ich mit meiner Mutter gewesen.› Das habe ich dann abgelehnt. Und weil ich das nicht gesagt habe, hat man meinen Text vom Buch rausgeschnitten und über die Filmaufnahmen gelegt. Quasi, dass ich statt auf dem Kinderspielplatz auf dem Platzspitz aufgewachsen bin. Das hat in der Familie grosse Probleme ausgelöst.

Ich schrieb meiner Mutter auch noch einen Brief, in dem ich ihr schreibe, dass ich sie liebe und sie mich hassen darf für mein Buch – wir hier aber wahrscheinlich zwei verschiedene Wege gehen werden.

An welchem Punkt nach den Ereignissen, die Sie im Buch beschreiben, haben Sie zum ersten Mal wieder Glück erfahren?

(Überlegt) Das war meine erste Goa-Party um meine Zwanziger herum. Ich habe dort Menschen kennengelernt, die der Clique aus der Zeit mit meiner Mutter sehr geglichen haben. Meine Herkunft war da zum ersten Mal kein Manko. Nicht: ‹Ach, du bist komisch, dich wollen wir nicht›, sondern ‹Hey! Noch so ein komischer Vogel, komm zu uns!› – und dort konnte ich mir alle Sorgen losreden und tränenüberströmt an Partys gehen.

Es war scheissegal. Auch heute gehe ich noch ab und zu an solche Partys. Es gibt mir extrem viel Kraft. Dort darf ich einfach ich sein – und darf auch ein drogenabhängiges Mami haben. Das war der Moment, an dem ich mich zum ersten Mal glücklich gefühlt habe.

Optimist, Pessimist oder Realist: Wie würden Sie sich einstufen?

Ich war lange ein krankhafter Optimist. Damals konnte ich knöcheltief im Mist stecken und denken: ‹Herrliche Scheisse!›. Dann gab es schon eine Zeit, in der ich sehr negativ war. Morgens hatte ich keine Energie, um aus dem Bett zu kommen. Aufgrund mehrerer Todesfälle war ich am Anschlag. Ich habe drei Leute innerhalb von sechs Monaten verloren – eine Person sogar kurz nachdem wir nicht mehr zusammen waren.

Mein Umfeld liess mich keine Minute allein, sie haben sich im Schichtbetrieb um mich gekümmert. Langsam bekam ich dann den Bezug zur Realität wieder, und heute bin ich ein Realist mit gesundem Optimismus. (lacht)

Ich dachte, dass Sie mit Realist antworten würden.

Warum dachten Sie das?

Realisten haben oft eine zynische Ader.

Ich kann sehr zynisch sein. Zynismus hilft manchmal auch einfach, die Realität zu akzeptieren. Zum Beispiel meine Achtsamkeitstrainerin: Sie musste sich viel von mir anhören von wegen ‹Komm, hau ab mit deinem Gspürschmi-Fühlschmi-Mist›. Zeitgleich sorgte diese Einstellung aber irgendwie auch dafür, dass ich dranbleibe. Ein bisschen sarkastisch durfte ich ja sein. Das bin schon auch ich.

Zum Schluss: Was bringt Sie zum Lachen?

Solche Fragen.

Die Hauptrollen in «Platzspitzbaby» übernahmen Sarah Spale («Wilder») und die 12-jährige Newcomerin Luna Mwezi. Regie führte Pierre Monnard.

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