InterviewSean Penn: «Ich weiss nicht, ob die USA das Coronavirus langfristig überleben werden»
Von Marlène von Arx, Los Angeles
12.8.2020
Hollywoods Helfer in der Not: Der frisch verheiratete Schauspieler Sean Penn setzt mit seiner Hilfsorganisation CORE beim Kampf gegen das Coronavirus in den USA ein Zeichen.
«Clyde is Hungry» nennt sich Sean Penn auf Zoom. Was es damit auf sich hat, abgesehen davon, dass es der Name seiner Produktionsfirma ist, will er dann mal in seiner Autobiografie enthüllen. Aber er müsste schon ziemlich betrunken sein, um eine zu schreiben, relativiert er.
Fest steht jedenfalls: Sean Penn ist ebenfalls hungrig. Hungrig nach Leben. Er wird am 17. August 60 Jahre alt und hat gerade Leila George (28), die Tochter der Schauspieler Vincent D’Onofrio und Greta Scacchi, geheiratet. Und er will Leben retten: Gouverneure zählen im Kampf gegen das Coronavirus auf seine Hilfsorganisation CORE (Community Organized Relief Effort).
Sean Penn, Sie sind zu einem der Top-Coronavirus-Tester in den unterprivilegierten Bevölkerungsschichten in den USA geworden. Wie kam es dazu?
Das Coronavirus ist für alle neu, aber als Katastrophenhilfsdienst hatten wir in Haiti immerhin schon Erfahrungen mit einer Cholera-Epidemie gemacht. Deshalb boten wir dem kalifornischen Gouverneur unsere Hilfe an. Er vermittelte uns nach Los Angeles, wo Feuerwehrleute die Test-Posten besetzten und entsprechend für andere Einsätze fehlten. Wir rekrutierten und bildeten intern Tester aus. Inzwischen sind 800 Angestellte und Freiwillige an Fix-Posten und in mobilen Test-Centern im Einsatz.
Und das Ganze wird finanziert durch den Twitter-CEO Jack Dorsey?
Zu einem grossen Teil. Dank einer Anfangsspende von 20 Millionen Dollar von Jack Dorsey konnten wir nach New York, Washington D.C., North Carolina, Chicago, Detroit Atlanta, New Orleans und die Navajo Nation expandieren. Inzwischen hat er nochmals 10 Millionen Dollar nachgeschickt und nun können wir auch Aufklärungskampagnen zum Maskentragen und Distancing durchführen.
Die USA kriegen ihre Ansteckungszahlen nicht unter Kontrolle. Wieso ist das so?
Das hat etwas mit einem zusammenhaltenden Sozialvertrag zu tun, der bei uns fehlt: Kanada war am Anfang auch schlimm von Covid-19 betroffen, aber sie konnten die Kurve abflachen und sie da behalten, weil die Leute nicht in unserem Ausmass an an Arroganz leiden. Dazu haben sie eine Regierung, die auf beiden Seiten des politischen Spektrums die Wissenschaft als Basis versteht. Das alleine bringt einen schon bedeutend weiter.
Es glauben nicht alle, dass das Testen und Masken zu tragen notwendig ist, wie beispielsweise Präsident Trump …
Das stimmt. Wir haben ein gutes Model entwickelt, wie NGOs mit den Bundesstaaten zusammenarbeiten können, denn von der Landesregierung kommt ja keine Führung. Aber weil alles politisiert wird, ist es nicht einfach, mit den Gouverneuren zu arbeiten. Zuerst muss man auch herausfinden, wer überhaupt zuständig ist. Los Angeles hat beispielsweise keinen Gesundheitsbeauftragten, aber der Bezirk hat einen. Es ist ein Chaos.
Was sagen Sie jenen, die sich in ihren demokratischen Rechten beschnitten sehen, wenn sie Masken tragen und für Contact Tracing ihre Telefonnummern hinterlassen müssen?
Wenn jemand reklamiert, seine Bürgerrechte werden beschnitten durchs Contact Tracing oder Maskentragen, dann klingt das für mich wie ein verängstigtes Kind, das die Hilfe seiner Mutter sucht. Der Virus-Terror eignet sich eben zur Feigheit. Und wenn die Führung des Landes ein Beispiel für diese Feigheit ist, werden gute Leute ihr auch verfallen. Sie ist die grösste Bedrohung.
Wird die Coronavirus-Strategie das entscheidende Thema bei den kommenden Wahlen sein?
Keine Regierung kann alles auf sich nehmen. Ich stehe links und werde oft beschuldigt, mit sozialistischen Diktatoren zu sympathisieren. Aber auch wenn sie versagten, stand am Anfang eine Bewegung für die armen Leute. Während Kuba deshalb Gesundheitsversorgung für alle hat, hat die USA, das reichste Land für Reiche, den Armen nichts anzubieten. Als Bürgerinnen und Bürger haben wir letztlich aber auch eine Pflicht. Deshalb bin ich nicht nur für Wählen, sondern auch für einen obligatorischen Dienst.
Was für einen Dienst?
Es kann ein Sozial- oder Landdienst sein. Wenn junge Leute merken, dass sie jemandem helfen können, prägt sie das fürs ganze Leben. Wir haben solche Dienste abgeschafft und sie mit Habgier und Oberflächlichkeit ersetzt. Wenn wir mit unserer Regierung oder unseren Nachbarn nicht zusammenarbeiten, hat der Feind – in diesem Fall das Virus – einfache Beute. Wir müssen zueinander finden. Wer nicht Kompromisse finden kann, ist Teil des Problems.
Hat Sie Covid-19 persönlich betroffen?
Ich habe Freunde, die schwer gelitten haben und solche, die keine Symptome hatten. Ich habe Bekannte, die gestorben sind. Von den Tausenden Freiwilligen, mit denen wir arbeiten, hatten wir acht, die positiv auf Corona getestet wurden. Und zum Glück waren sie asymptomatisch. Wir passen sehr gut auf. Wir arbeiten wenn möglich draussen, tragen Schutzkleidung und testen oft. Aber wir wissen immer noch nicht vollständig, wie sich das Virus verhält. Ich weiss nur, wenn einer mit einem Gewehr 150'000 Tote in den USA verursachen würde, würden wir alle ernsthaft etwas unternehmen wollen.
Wo holen Sie sich an einem frustrierenden Tag Mut?
Das ist eine gute Frage, die ich mir in der letzten Woche mehr gestellt habe, als in all den Monaten vorher. Jeder Morgen ist wie Groundhog Day: Alles wiederholt sich. Das attackiert die Psyche. Meine Medizin ist das Bewusstsein, wie gut es mir geht. Ich habe immer noch ein sauberes Haus mit Licht, meine Kinder sind gesund und meine 92-jährige Mutter, die zwei Blocks von mir weg lebt, auch.
«Ich weiss nicht, ob die USA das Coronavirus langfristig überleben werden.»
Haben Sie sich nach dem Erdbeben in Haiti vor zehn Jahren hauptberuflich dem Katastrophenhilfsdienst zugewendet, weil Filme zu wenig bewegen können?
Wenn etwas einen Zweck hat und man engagiert ist, spielt es keine Rolle, was das Medium ist. Beim Filmemachen habe ich gelernt, dass das Set schon gestern bereit sein muss. Das konnte ich beim Noteinsatz in Haiti einbringen, denn da schien mir die etwas zynische Einstellung vorzuherrschen, dass morgen ja auch noch katastrophal ist und man deshalb auch erst übermorgen etwas anpacken kann. Noteinsätze sind also ähnlich wie Dreharbeiten, nur steht natürlich mehr auf dem Spiel.
Es ist also nicht so, dass Sie genug von Hollywood hätten?
Nein, ich liebe Filme noch immer, aber das Kino ist nicht mehr das Mädchen, in das ich mich verliebt habe. Die Gedanken provozierenden Filme wandern ins Fernsehen ab. Ich weiss nicht, ob diese Pandora-Box wieder geschlossen werden kann und ob Kinos nur noch mit Event-Movies funktionieren können. Von denen halte ich nur einen pro Jahr aus. Hoffentlich verlangt das Publikum eines Tages wieder Tiefgang wie nach dem Vietnamkrieg.
Persönlich stehen Sie vor einem Neuanfang: Sie haben gerade Ihre Freundin Leila George geheiratet – standesamtlich via Zoom …
… ich bin über beide Ohren verliebt …
Und am 17. August werden Sie 60 Jahre alt. Es gibt also einiges zu feiern – oder ist das wegen Corona nicht möglich?
60! Es wird langsam Zeit! Ich habe mich eigentlich immer als 77-Jährigen verstanden. Also habe ich noch 17 Jahre, bis ich mich wirklich wie mich selber fühle. [lacht] Ich bin verliebt in eine wunderbare Australierin, und wenn jemand eine tolle Feier organisieren kann, dann sind es wunderbare Australierinnen. Mal sehen, ob etwas machbar ist, denn sie ist die Stab-Chefin von meiner CORE-Partnerin Ann Lee, die derzeit in Georgia Contact Tracing Centers aufbaut. So oder so: Eine allfällige Party wäre sehr klein und würde unter rigorosen Coronaregeln stattfinden.
Ich schwanke zwischen Aspiration und pragmatischem Optimismus. Ich denke, die Menschheit wird das Virus überstehen. Ich weiss nicht, ob die USA das Coronavirus langfristig überleben werden. Wir werden Jahre leiden – auch weil die Leute sich jetzt generell nicht trauen, zum Arzt zu gehen. Die Sterberate wird entsprechend steigen. In der Wirtschaft und durch die Division im Land wurde viel Schaden angerichtet. Die Erholung wird dauern. Die Wahlen im November wären ein guter Anfang auf dem Weg zur Genesung.