Tina Turner – eine Erinnerung «Mein Traum ging auf dieser Seite der Erde in Erfüllung»

Von Hanspeter «Düsi» Künzler, London

25.5.2023

Musikexperte Hanspeter «Düsi» Künzler erinnert sich für blue News an seine erste Begegnung mit Rockstar Tina Turner im Jahr 1996. Mit einem freundlichen «Grüezi!» eröffnete sie damals das Gespräch.

Von Hanspeter «Düsi» Künzler, London

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • blue News Autor Hanspeter «Düsi» Künzler erinnert sich noch lebhaft, wie er als Bub zum ersten Mal einen Song von Ike & Tina Turner im Radio hörte.
  • Er erinnert sich, wie er für ein Konzert des Rockstars sein ganzes Geld zusammenklaubte und später aus Tina Turner in London ein Geheimtipp wurde.
  • Mit einem lässigen «Grüezi» begrüsste Tina Turner «Düsi» bei der ersten Begegnung.

Ich sass in meinem Kinderzimmer im Bahnhof Niederglatt und spielte mit meinen Legoklötzchen, da brach im Radio urplötzlich ein Vulkan aus. Lego und überhaupt alles andere waren auf der Stelle vergessen.

Staunend lauschte ich den unglaublichen Klängen, die an mein Ohr drangen. «River Deep, Mountain High», so stellte es sich heraus, Ike & Tina Turner mit der Wall-of-Sound-Produktion von Phil Spector. Nicht die Beatles, nicht die Stones und auch nicht die Beach Boys hatten meine kindliche Psyche je zuvor mit einer derart unwiderstehlichen Wucht erfasst.

Natürlich verstand ich nichts von den Leidenschaften, die das Lied in Töne fasste. Aber ich verstand den «Wow»-Moment sehr gut: Drei Minuten und vierzig Sekunden lang (damals eine verwegene Länge für eine Single) hatte sich mir der Blick auf eine Welt geöffnet, von der ich zwar keine Ahnung hatte, wie sie aussehen würde, aber von der ich hoffen durfte, dass sie da draussen – vielleicht schon am anderen Ende der Eisenbahngleise, die am Haus vorbeiführten, auch auf mich wartete.

Mein ganzes Geld für ein Ticket für Tinas Solo-Konzert zusammengeklaubt

Ich war noch weit davon entfernt, diese Welt entdeckt zu haben, als ich ein paar Jahre später vor dem TV sass und mir den «Musikladen» zu Gemüte führte. Und da waren sie wieder, Ike & Tina T., diesmal mit «Nutbush City Limits», komplett mit irrwitzigem Synthi-Solo. Wieder war ich hin und weg: meine erste bewusste Begegnung mit wahrem «Funk» – Rhythmus, der tief in die Knochen ging und weitgehend von Tina Turners phänomenaler, perkussiv eingesetzter Stimme geprägt wurde.

Über Hanspeter «Düsi» Künzler
zVg

Der Zürcher Journalist Hanspeter «Düsi» Künzler lebt seit bald 40 Jahren in London. Er ist Musik-, Kunst- und Fussball-Spezialist und schreibt für verschiedene Schweizer Publikationen wie blue News und die NZZ. Regelmässig ist er zudem Gast in der SRF3-Sendung «Sounds».

Irgendwann habe ich dann auch noch «Soul to Soul» gesehen, den berauschenden Film vom Konzert, mit dem Ghana 1971 seine Unabhängigkeit feierte und wo Ike & Tina Turner mit ihrem hochoktanigen, libidogetränkten Auftritt die Show stahlen.

Diese raren virtuellen Begegnungen hatten mich derart beeindruckt, dass ich im Dezember 1983 all meine Groschen zusammenklaubte und mir ein Ticket erstand für Tinas Solo-Konzert im Venue, einem mittelgrossen Lokal in der Nähe des Bahnhofs Victoria in London, wo ich inzwischen wohnte.

Seit ein paar Jahren endlich vom gewalttätigen Ike geschieden, war sie immer noch daran, die halbe Million Dollar Steuerschulden abzuzahlen, die ihr der Ex im Rahmen des Scheidungsvertrages überschrieben hatte, damit sie den von ihm mittels Copyright unter den Nagel gerissenen Namen «Tina Turner» weiterhin behalten durfte.

Die erste Show von Tina Turner erfüllte die Erwartungen ...

Die Show im Venue entsprach den Erwartungen: Kostüme, Songauswahl und Arrangements waren direkt aus den schrillen Las-Vegas-Dancings und den Privatpartys der Saudi-Scheiche importiert worden, mit denen Tina zu der Zeit ihre Brötchen verdiente. Das Programm bestand aus Coverversionen unter anderem von David Bowies «Cat People»: ein Dankeschön an David, der sie als Support-Act auf Tournee mitgenommen hatte und der seine Plattenfirma auch dazu überredete, sie unter Vertrag zu nehmen, obwohl nach mehreren Flops niemand mehr Lust hatte, ein Album mit ihr aufzunehmen.

Nebst «Help!», «River Deep…» und Bob Segers «Hollywood Night» gab sie an dem Abend auch «Let’s Stay Together» zum Besten, eine Al-Green-Komposition, welche die Plattenfirma eher widerwillig und ohne jede Hoffnung soeben als Single veröffentlicht hatte. Produziert worden war sie von Martyn Ware und Ian Craig Marsh, beides Ex-Human-League-Mitglieder und jetzt bei Heaven 17. Sie kamen aus der elektronischen Musik und trabten an der vordersten Front des Zeitgeistes mit. Ein Jahr vorher hatten sie unter dem Namen British Electronic Foundation ein Album mit diversen Gaststimmen veröffentlicht, zu denen auch Tina Turner gezählt hatte, die den Temptations-Hit «Balls of Confusion» interpretierte.

Diese Aufnahme, kombiniert mit der supercoolen Umgebung, in der sie sich nun bewegte, hatte bewirkt, dass Tina Turner in den trendigen Kreisen von London so etwas wie ein Geheimtipp geworden war.

Zurück zum Auftritt im Venue: Es war dermassen ausverkauft, dass statt der zwei Konzerte schliesslich deren acht angesetzt werden mussten. Die Show war überwältigend: TT ging mit dermassen viel Schwung und Begeisterung ans Werk, dass der Las-Vegas-Aufputz und die unglückliche Liederauswahl egal waren.

Es ist ein Klischee, aber bei Tina Turner trifft es den Nagel auf den Kopf: Sie hätte auf dieser Bühne das Telefonbuch singen können, und wir wären ihr zu Füssen gekniet. Und siehe da: «Let’s Stay Together» wurde ein veritabler Hit – auch in der Schweiz übrigens. Für die Plattenfirma kam diese Entwicklung so überraschend, dass man für die Aufnahmen von «Private Dancer», dem Album, mit dem man den Erfolg noch ein bisschen länger auskosten wollte, gerade mal zwei Studiowochen zur Verfügung stellte.

... und dann endlich sass sie leibhaftig vor mir

Am 7. Februar 1996 bin ich Tina Turner dann endlich leibhaftig begegnet. Das Interview drehte sich um das Album «Wildest Dreams», wo sie mit Trevor Horn, Pet Shop Boys, Massive Attack und anderen hauptsächlich britischen Musikern zusammenspannte.

«Grüezi!», sagte sie zur Begrüssung – seit einem Jahr lebte sie in der Schweiz. Sie hätte nicht freundlicher sein können. Fragen, die sie garantiert schon Tausend Mal beantwortet hatte, beantwortete sie mit Engelsgeduld. Die Verbindung mit der britischen Szene hatte schon mit «Private Dancer» begonnen, mit dem 1984 ihre grosse Renaissance begann und für welches sie Lieder von Mark Knopfler, Paul Brady oder David Bowie ausgesucht hatte.

«Mein Traum ging auf dieser Seite der Erde in Erfüllung», erklärte sie mir. «Die Engländer lieben amerikanische Musik und respektieren meine Stimme. Dieser Respekt ermöglichte es mir damals mit ‹Private Dancer›, einen neuen Stil zu finden. In Amerika hatte es keinen Produzenten gegeben, der diesen Schritt mit mir hätte tun wollen.»

«Spass an der Sache» zu haben, sei ihr inzwischen das Wichtigste. «Müssen muss ich nichts mehr. Darum habe ich dieses Album aufgenommen. Ich dachte, es könnte Spass machen.» Ich wollte wissen, was Produzent Trevor Horn, bekannt für seine monumentalen Produktionen etwa für Frankie Goes to Hollywood, aus ihr geholt habe. «Tolles Singen!», sagte sie laut lachend. «Ich glaube, er wusste es zu schätzen, dass er wenig zu tun hatte. Ich hatte meine Hausaufgaben gemacht. Ich wusste, welche Songs ich aufnehmen wollte, hatte sie intus und traf die Noten.»

Und noch ein geradezu rührendes Postskriptum: «In den Ferien oder an Weihnachten oder wenn ich Geburtstag habe, setze ich mich hin mit einem Berg Fanpost und versuche so viele Briefe wie möglich zu beantworten …»


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