Tochter von KZ-Kommandant Höss«I don’t verdräng it anymore»
Von Bruno Bötschi
20.4.2024
Der Film «The Zone of Interest» rekonstruiert das Leben von Rudolf Höss, dem Kommandanten des KZ Auschwitz. Mit seiner Tochter hatte Malte Herwig bis zu ihrem Tod im Jahr 2023 regelmässig Kontakt. Ein Interview.
Höss war von Mai 1940 bis November 1943 Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz.
Malte Herwig sprach ab 2014 regelmässig mit Höss' zweitältester Tochter. Er besuchte Ingebrigitt Höss mehrfach in Arlington, USA, wo sie bis zu ihrem Tod im vergangenen Jahr lebte.
Herwig sprach mit Ingebrigitt Höss über ihre Kindheit, ihre Erinnerungen an die Zeit, als sie neben dem Konzentrationslager Auschwitz lebte, und ihre Liebe zum Vater, dem Massenmörder.
«Wir haben gemeinsam einen sehr vorsichtigen, behutsamen Tanz um die dunklen Stellen in ihrer Erinnerung gemacht», sagt Malte Herwig im Interview mit blue News.
Malte Herwig, seit vergangener Woche läuft der Film «The Zone of Interest» in den Schweizer Kinos. Was fühlten Sie, nachdem Sie den Film gesehen haben?
Ich war benommen von der Kälte und Düsternis dieses Films. Aber ich habe jede Sekunde in mich aufgesogen, die Darsteller beobachtet, als ob ich mit ihnen im Raum stehe. Der Sound entfaltet eine ungeheure Sogwirkung, während die Bilder fast nur banale Geschehnisse zeigen.
In «The Zone of Interest» rekonstruiert Regisseur Jonathan Glazer das Leben von Rudolf Höss und seiner Familie. Höss war von Mai 1940 bis November 1943 Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz. Was halten Sie vom Film?
Ich war überrascht, wie authentisch alles scheint – mit nur wenigen Ausnahmen. Der Film wurde nicht in dem originalen Haus der Familie Höss gedreht, sondern einem anderen Gebäude in der Nähe. Ich war vor ein paar Jahren in dem echten Haus, die Atmosphäre ist sehr gut eingefangen. Es gibt da so viele interessante Details und Ideen, die der Film umsetzt.
Welche?
Wie Sandra Hüller als Hedwig Höss Messer und Gabel hält, zeigt zum Beispiel, dass sie so ein bürgerliches Ambiente nicht gewohnt ist. Oder die Krematorium-Hersteller der Firma Topf und Söhne, die Rudolf Höss neue Öfen für die Verbrennung von Menschenleibern verkaufen wollen. Die kommen daher wie Staubsaugervertreter, die gleiche Gestik, die gleichen Verkaufsargumente. Man könnte das berühmte Wort von Hannah Arendt umdrehen: Das ist die Bösartigkeit des Banalen.
In den vergangenen Jahren sprachen Sie regelmässig mit der zweitältesten Tochter von Rudolf und Hedwig Höss. Sie besuchten Ingebrigitt Höss zudem in Arlington, USA, wo sie bis zu ihrem Tod im vergangenen Jahr lebte. Wann trafen Sie Frau Höss zum ersten Mal?
Im August 2014 habe ich sie zum ersten Mal in Arlington besucht.
Welches war Ihr Antrieb für die Gespräche und Begegnungen mit Frau Höss?
Ich wollte verstehen, wie es sich angefühlt hat, direkt am Rand der «grössten Menschenvernichtungsanlage aller Zeiten», wie Rudolf Höss sein Werk nannte, zu leben. Hat man wirklich nichts mitbekommen? Wie hat man das gedeutet, was man sah? Wie hat man es sich zurechtgelegt? Die erstaunlichste und furchterregendste Eigenschaft von uns Menschen ist ja, dass wir uns irgendwann an alles gewöhnen können.
Ingebrigitt Höss war sechs Jahre alt, als ihre Familie 1940 in das Haus direkt neben dem Konzentrationslager Auschwitz zog. Welche Erinnerungen hatte sie an diese Zeit?
Sie hat sich an die Musik im Haus erinnert, wenn ihr Vater am Wochenende das Grammofon spielte. An das türkisfarbene Wasser der Sola, eines Nebenflusses der Weichsel, wo sie mit ihren Geschwistern die Frösche beobachtete. An den schönen Garten.
Was war Ingebrigitt Höss für ein Mensch? Wie würden Sie Ihren Charakter beschreiben?
Sie war eine freundliche, alte Dame, die eine interessante Mischung aus Deutsch und Englisch mit starkem deutschem Akzent sprach. Sie war bereits krank, aber ziemlich tough, und erklärte einmal: «Ich kann noch nicht sterben, meine Kinder brauchen mich ja noch.» Sie hasste Donald Trump und liebte Prince.
Wie verliefen Ihre Begegnungen – und gab es auch Auseinandersetzungen zwischen Ihnen und Frau Höss?
Auseinandersetzungen nicht, aber wir mussten Dinge klären: Was sagt ihre Erinnerung, was sagen die Fakten, wie bringen wir das zusammen? Man darf auch subjektive Erinnerungen nicht einfach unter Verweis auf die Fakten abtun, sondern man muss das in Beziehung setzen, um zu verstehen, was in solchen Zeitzeugen vor sich geht.
Hat sich Ingebrigitt Höss in der Zeit, in der Sie sie getroffen haben, verändert?
Wir haben gemeinsam einen sehr vorsichtigen, behutsamen Tanz um die dunklen Stellen in ihrer Erinnerung gemacht. Am Anfang sagte sie, was in vielen deutschen Familien nach dem Krieg so gesagt wurde, auch in der Familie Höss: Papa musste Befehle befolgen, vielleicht wusste er auch gar nicht, was andere da im Lager für schlimme Dinge taten.
Das stimmt natürlich nicht, es ist eine Schutzbehauptung, die den Kindern erzählt wurde und die sie vermutlich bereitwillig glaubten, denn die Realität hätte ja überhaupt nicht zu dem liebenden Vater gepasst, den sie gekannt haben. Ich habe ihr dann, als wir uns schon ein bisschen kannten, aus den Aufzeichnungen vorgelesen, die ihr Vater in der Haft vor seiner Hinrichtung in Polen niedergeschrieben hat.
Darin berichtet er alle Details, auch, wie er selbst zugegen war, als Menschen in die Gaskammern getrieben wurden. Wie ihn diese Todgeweihten um Gnade für ihre Kinder anflehten. Er war kein Schreibtischtäter, im Gegenteil: Er hat die Schreibtischgrausamkeiten in die Realität umgesetzt.
Sie hörte sich das sehr aufmerksam und still an und sagte irgendwann: «Danke, jetzt habe ich genug gehört. Nun weiss ich, wie es war.» Und dann kam der vielsagende Satz: «I don’t verdräng it anymore.»
Da ist viel Verdrängung im Spiel, wie sollte es anders sein. Ich habe das sowohl bei Tätern als auch bei Opfern oft gehört. Wie soll man mit der Realität sonst leben? Aber das Verdrängte taucht oft in der einen oder anderen Form wieder auf. Bei Ingebrigitt Höss waren es die Kopfschmerzen, die sie immer wieder plagten.
Inzwischen gibt es einiges an Forschung zum Thema transgenerationale Weitergabe von Traumata, die zeigt, dass sich Ungeklärtes über mehrere Generationen hinweg eingräbt, dass noch die Kinder und Enkelkinder leiden, ohne zu wissen, woran. Ihnen fehlt ja das konkrete Erlebnis, an dem sie Traurigkeit, Schuldgefühle und Ähnliches festmachen können.
Ich bin kein Psychologe, aber ich habe festgestellt, dass Reden durchaus hilft. Ingebrigitt Höss und ich haben auch in den letzten Jahren vor ihrem Tod Kontakt gehalten und immer wieder einmal miteinander telefoniert. Sie sagte mir, dass Sie mit niemandem sonst über ihre Erinnerungen an Auschwitz sprechen könne, und froh sei, mit mir darüber zu reden.
So grundsätzlich: Glauben Sie, dass die Deutschen vom Holocaust mehr gewusst haben, als immer wieder behauptet wurde?
Die Frage ist: Wovon haben sie genau gewusst? Von der industriellen Menschenvernichtung wussten en détail sicherlich nur wenige Eingeweihte. Deswegen ja auch das Bemühen der Nazibürokratie, die wahren Vorgänge durch verharmlosende Begriffe wie «Endlösung» unter einem Deckmantel zu verhüllen. Es ist schon eine besondere Perversität, dass einige der schrecklichsten Orte der Menschheitsgeschichte von den Nazibürokraten so natur-romantische Namen wie Birken-Au oder Buchen-Wald bekamen.
Aber niemand kann mir erzählen, dass Oma und Opa nicht mitbekommen haben, dass die jüdischen Nachbarn verschwinden, nachdem sie bereits viele Jahre öffentlich entrechtet und gedemütigt wurden. Ich zeige das, ohne wohlfeile Schuldzuweisung, am Beispiel meines eigenen Vaters, dem als Kind eines Tages erzählte wurde, der jüdische Zahnarzt sei nicht mehr da und er gehe jetzt zu einem anderen.
Die Frage ist die gleiche, die man nach jedem grossen Unglück stellen muss: Welche Fragen haben die Deutschen damals gestellt – und mit welchen Antworten haben sie sich zufriedengegeben?
Das Fazit Ihres «Spiegel»-Textes: «Wir schauen weg und am Ende kommen Touristen.» Denken Sie, dass der Film «The Zone of Interest» daran etwas ändern wird?
Nein. Aber wir können etwas daran ändern, indem wir uns mehr um die Menschen kümmern, mit denen wir gemeinsam leben müssen. Uns mehr auf das Leben der anderen einlassen, ohne gleich zu verurteilen. Weniger Angst vor Veränderungen haben, aber genau hinsehen, wenn sich etwas verändert.
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