SpiegelfechterWie eine Amsel mir eine Lektion in Demut erteilte
Von Gil Bieler
23.4.2023
Wenn ein Vogel permanent in die Fensterscheibe knallt, dürfte es ein Spiegelfechter sein. Dieses Verhalten ist stressig für die armen Tiere – aber auch für die Menschen hinter dem Fenster.
Von Gil Bieler
23.04.2023, 12:04
23.04.2023, 14:41
Gil Bieler
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Während der Brutzeit lässt sich bei verschiedenen Vogelarten das sogenannte Spiegelfechten beobachten.
Die Tiere halten ihre eigene Reflexion in Fensterscheiben für einen fremden Artgenossen, den es zu vertreiben gilt.
Dies führt zu Verunreinigungen und Kratzspuren auf der Scheibe.
Jemand aus meinem Umfeld belächelt Vögel. Obwohl sie fliegen könnten, würden sie nicht einmal die Welt beherrschen. Sackschwach sei das.
Oh, er hatte es eindeutig noch nie mit einem Spiegelfechter zu tun. Dann würde er diese Überheblichkeit nämlich gleich wieder abstreifen.
Am Anfang war die Blutspur
Alles begann vor ein paar Wochen. Plötzlich waren da überall Dreck- und Blutspuren an der gläsernen Balkontür. Ich war zwar verwundert, putzte aber alles einfach weg und hielt das Thema für erledigt.
Einen Tag später war die Scheibe erneut zerkratzt. Und der Balkon komplett vollgeschissen. Der Übeltäter war längst über alle Berge, daher suchte ich im Internet nach Spuren – und stiess rasch auf das Phänomen der Spiegelfechter.
«Manchmal entdecken Vögel auf Fensterscheiben oder in Autorückspiegeln ihr Spiegelbild oder wenigstens Umrisse davon», erklärt die Vogelwarte Sempach auf ihrer Website. «Die Vögel halten ihr Spiegelbild für einen fremden Artgenossen, der attackiert und vertrieben werden muss.»
Mit solchen Scheingefechten verteidigen Exemplare verschiedener Vogelarten während der Brutzeit ihr Revier. Bachstelzen, Raben, Buchfinken und Amseln werden aufgeführt. In meinem Fall ist es offenbar eine Amsel, denn ich bin nicht der Einzige, den sie heimsucht: Die Amsel hält das ganze Quartier auf Trab, wie sich herausgestellt hat.
Mehr als einmal erwischte ich sie auf frischer Tat, wie sie gegen ein Fenster hackte. Ich verscheuchte sie jeweils mit Gefuchtel und Klatschen. Problem gelöst? Nada. Nur wenig später arbeitete sich die Amsel erneut an der Scheibe ab. Mensch, das arme Tier. Aber auch: Mensch, der ganze Dreck!
Putzen, fluchen, aufrüsten
Was tun? Das einzige wirksame Mittel ist es, die Scheiben von aussen abzukleben. Habe ich über die Ostertage auch gemacht (ein Hoch auf Printzeitungen!). Doch die Amsel kehrte zurück. Der Kot ebenso.
Putzen, fluchen, aufrüsten: Eine Attrappe könne man aufstellen, wird geraten. Also kaufe ich eine potthässliche Plastikeule und pflanze sie auf den Balkon. Zusätzlich hänge ich Alufoliestreifen auf, die im Wind wehen. Abschreckende Wirkung? Gleich null. Mal abgesehen von der ästhetischen Verschandelung des Balkons.
Im Kampf gegen den so kleinen, aber übermächtigen Gegner gehen mir die Ideen aus. Also wende ich mich an die Profis: «Spiegelfechten ist kein seltenes Phänomen, gerade bei all dem spiegelnden Glas in unseren Siedlungen», erklärt Livio Rey, Mediensprecher der Vogelwarte Sempach, auf meine Nachfrage. Eine genaue Aussage, wie viele Leidensgenoss*innen sich deshalb bei der Vogelwarte melden, kann er jedoch nicht machen.
In meinem Fall habe ich es wohl mit einer besonders hartnäckigen Amsel zu tun. Wahrscheinlich müsse ich nochmals die Scheiben abkleben. Das sei das Einzige, was nütze.
Hasta la vista, birdy!
Immerhin etwas Erbauliches kann mir der Experte mit auf den Weg geben: «Das Spiegelfechten sollte aufhören, wenn die Brutzeit vorbei ist, denn dann muss kein Revier mehr verteidigt werden», so Livio Rey. Bis im Juni oder Juli sollte der Spuk also plus/minus vorbei sein.
Und die Chancen stehen recht gut, dass es nie wieder zu einem Wiedersehen kommt: Zwar sei es denkbar, dass diese Amsel auch im nächsten Jahr am selben Ort brüte, sagt Rey, «aber Amseln sind nicht so standorttreu und langlebig wie etwa Störche oder Greifvögel».
Wenn ich schon keinen Stich gegen den gefiederten Unruhestifter habe, spielt wenigstens die Zeit mir in die Hände. Respektive seine biologische Programmierung. Mehr habe ich dem Vieh auch gar nicht entgegenzusetzen – von wegen «Krone der Schöpfung» und so.
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