Schweizer Auswanderer in Portugal «Wir werden immer an zwei Orten zu Hause sein»

Von Bruno Bötschi

22.6.2022

Michelle und Renato de Oliveira mit ihren zwei Kindern nach Santa Cruz, Portugal ausgewandert.
Michelle und Renato de Oliveira mit ihren zwei Kindern nach Santa Cruz, Portugal ausgewandert.
Bild: Privat

Vor 100 Tagen wanderte blue News Kolumnistin Michelle de Oliveira mit ihrer Familie nach Portugal aus. Ein Gespräch über das Leben an der Atlantikküste, die Bürokratie in der neuen Heimat und das Heimweh.

Von Bruno Bötschi

Michelle und Renato de Oliveira, vor 100 Tagen seid ihr nach Portugal ausgewandert. Wie geht es euch?

Michelle: Mir geht es sehr gut. Gerade sitze ich an meinem Schreibtisch, und wenn ich zum Fenster hinausblicke, sehe ich ein kleines Stück des Atlantiks. Die Tatsache, dass ich am Meer lebe und mir damit einen lang gehegten Wunsch erfüllen konnte, überwältigt mich noch immer jeden Tag. Und entschädigt den etwas harzigen Start und vor allem die nie enden wollenden Gänge zu den Behörden. Die Bürokratie hier ist unglaublich unübersichtlich.

Renato: Nach zehn Jahren in der Schweiz bin ich wieder in meinem Heimatland und ich muss mich daran gewöhnen, jeden Tag meine Muttersprache zu hören und an Orten zu sein, die ich schon mein ganzes Leben lang kenne. Es fühlt sich noch immer wie Ferien an, fast als würde ich bald wieder nach Zürich zurückkehren. Ein Teil von mir wird wohl immer dort bleiben. Aber es gibt nichts Besseres, als jeden Tag das Meer zu riechen und fein zu essen.

Lag es nur am Schweizer Essen oder welche Gründe zogen dich, Renato, zurück in dein Heimatland?

Renato: Ich habe in der Schweiz immer gut gegessen und werde Raclette wahnsinnig vermissen. Der Wunsch, in Meeresnähe zu leben und etwas Neues zu wagen – auch in Bezug auf den Job – waren ausschlaggebend.

Wie haben euch die Menschen in Santa Cruz an der portugiesischen Westküste, wo ihr nun lebt, empfangen?

Renato: So wie eigentlich überall in Portugal: Die Leute sind sehr freundlich und zuvorkommend und freuen sich immer riesig über unsere Kinder – nicht zuletzt, weil sie mit ihren roten Haaren hier ganz besonders auffallen. Und die Menschen sind immer überrascht, dass die Kinder Portugiesisch sprechen.

Santa Cruz ist bekannt für seine ausgedehnten Sandstrände. Was bietet der Ort sonst noch?

Michelle: Nicht viel mehr. Santa Cruz ist ein kleines Dorf und es ist gerade dieses beschauliche Leben, die Nähe zur Natur, die uns sehr gefällt und uns entschleunigt. Und es riecht hier immer so unglaublich gut, die gesättigte Meeresluft gemischt mit dem Duft von Eukalyptus – besser geht’s nicht.

«Es ist gerade dieses beschauliche Leben, die Nähe zur Natur, die uns sehr gefällt und uns entschleunigt»: Michelle de Oliveira über das Leben im kleinen Küstenort Santa Cruz.
«Es ist gerade dieses beschauliche Leben, die Nähe zur Natur, die uns sehr gefällt und uns entschleunigt»: Michelle de Oliveira über das Leben im kleinen Küstenort Santa Cruz.
Bild: Getty Images/EyeEm

Michelle, wie haben deine Familie und deine Freunde reagiert, als du ihnen mitgeteilt hast, dass du mit Renato und euren zwei Kindern die Schweiz verlassen und an die portugiesische Atlantikküste ziehen wirst?

Michelle: Eigentlich haben alle gleich reagiert. Sie waren traurig, dass wir bald weit weg sein werden. Gleichzeitig teilten sie unsere Vorfreude auf dieses Abenteuer. Der Entschluss kam auch nicht ganz unerwartet: Seit ich Renato kenne, habe ich mit dem Gedanken gespielt, wie es wäre, in Portugal zu leben.

Du hast deinen Traum in die Realität umgesetzt. Bist du immer so entscheidungsfreudig?

Michelle: Seit meine Entscheidungen auch zwei Kinder betreffen, bin ich nicht mehr ganz so impulsiv wie früher. Aber tatsächlich haben wir innerhalb von zwei Wochen beschlossen, auszuwandern. Die Umstände haben uns die Entscheidung erleichtert: Renatos Jobverlust, meine relativ ortsunabhängige Arbeit, das Haus, das wir bereits gekauft hatten und Kinder, die noch nicht im Schulalter waren. Uns war klar: Wenn nicht jetzt, wann dann?

Professor Walter Leimgruber hat demnach recht. Der Präsident der Schweizer Migrationskommission sagte 2017 in einem Interview mit «swissinfo»: «Die Leute, die etwas Spezielles leisten wollen, finden in der Schweiz keine Gestaltungsmöglichkeiten. Sie erzählen immer dieselbe Geschichte: Wenn du in der Schweiz etwas umsetzen willst und du scheiterst, bekommst du immer den Satz zu hören: ‹Ätsch, ich habe dir ja gesagt, dass das nicht funktioniert.›»

Michelle: Ob das hier nicht auch der Fall sein wird, können wir noch nicht sagen. Und es ist nicht so, dass wir hier ungestümer Begeisterung begegnen, wenn wir von unseren Projekt-Ideen erzählen. Aber uns persönlich verleiht der Tapetenwechsel, dieser grundsätzliche Neuanfang, wohl mehr Mut, es einfach mal zu probieren.

Renato, was war bisher der schönste Moment seit deiner Rückkehr in dein Heimatland?

Renato: Ich war mit dem Auto bereits vorab nach Portugal gefahren. Der schönste Moment war ganz klar, als ich Michelle und die Kinder eine Woche später am Flughafen abgeholt habe und sagen konnte: «Bem-vindos a casa» (Willkommen zu Hause).

Und worüber hast du dich seit deiner Ankunft in Portugal am meisten genervt?

Renato: Wie Michelle schon gesagt hat: über die Bürokratie. Die Menschen sind zwar nett und hilfsbereit, aber die Abläufe sind extrem unübersichtlich und es ist immer wieder frustrierend, auf einem Amt nach dem anderen zu hören, dass sie nicht weiterhelfen können. Das lässt mich manchmal schon ratlos zurück und ich frage mich: Und jetzt?

Wie kompliziert ist denn die Bürokratie in Portugal?

Michelle: Als wir ein Bankkonto eröffneten, konnte das erst nur Renato, weil ich nicht die richtige Bestätigung meiner Finanznummer – die man ebenfalls erst beantragen muss – hatte. Beim Finanzamt sagte man uns allerdings, die Bank bräuchte diese gar nicht. Schliesslich gab man mir dann aber doch einen Zettel mit, sodass ich dann vor Ort in der Bank als Mitinhaberin des Kontos eingetragen werden konnte.

Ich nehme an, dass dies noch nicht das Ende der Geschichte ist?

Michelle: So ist es. Ich ging davon aus, dass ich dadurch automatisch auch eine EC-Karte erhalten würde. Der Mann aber schüttelte den Kopf und so musste ich, nachdem meine Registrierung erfolgreich war, wieder zur Bank gehen und noch einmal Formulare ausfüllen, damit ich zu meiner EC-Karte gekommen bin. Und so haben wir auch in vielen anderen Belangen zahlreiche Botengänge unternehmen müssen.

«Es gibt nichts Besseres, als jeden Tag das Meer zu riechen und fein zu essen»: Renato de Oliveira über das Leben in Santa Cruz.
«Es gibt nichts Besseres, als jeden Tag das Meer zu riechen und fein zu essen»: Renato de Oliveira über das Leben in Santa Cruz.
Bild: Getty Images

Renato, du bist auch öfter unterwegs, da du aktuell auf Jobsuche bist. Stimmt's?

Renato: Ja, ich bin viel unterwegs. Aber nicht wegen der Jobsuche, sondern weil ich im Moment Vollzeit-Vater bin. Der Unterbruch vom bezahlten Arbeitsalltag ermöglicht es mir, viel Zeit mit den Kindern zu verbringen, bevor sie dann im Herbst wieder in die Kita und in den Kindergarten gehen.

Wie habt ihr eure zwei Kinder auf den Umzug nach Portugal vorbereitet?

Michelle: Wir hatten oft die Ferien hier verbracht, der Ort war ihnen also vertraut. Auch unser Haus kannten sie bereits. Wir haben ihnen erklärt, warum wir umziehen und was das konkret für sie bedeutet: Kisten packen, Abschied von der Kita und dass das Grosi, die Gottis und ihre Freunde nicht mehr so nahe sein werden. Dafür aber die portugiesische Familie und ein endlos grosser Sandkasten direkt vor der Haustür.

Gibt es etwas typisch Schweizerisches, das ihr in Portugal total vermisst?

Renato: Wie schon gesagt: Raclette. Und Velowege. Obwohl gerade Zürich ja nicht unbedingt bekannt ist dafür, ist die Stadt doch viel velofreundlicher, als es in Portugal üblich ist. Und die Kinder vermissen ihre geliebten Vollkorn-Cracker.

Haben eure Kinder Heimweh?

Michelle: Bisher nicht. Ich habe unseren Sohn neulich gefragt, ob er unser altes Zuhause in Zürich vermisse und er schaute mich bloss fragend an. Aber beide Kinder sagen oft, dass es schön wäre, wenn die Cousine und der Cousin und ihre Freund*innen ebenfalls hier leben würden.

Und ihr selber?

Michelle: Das ist auch für mich der einzige Wehrmutstropfen: Dass ich meine Familie und meine Freunde nicht einfach spontan treffen kann. Dank Nachrichten, Video-Anrufen und unzähligen Fotos, die wir hin und her schicken, bleiben wir uns zwar nahe. Aber eine echte Begegnung mit einer festen Umarmung fehlt mir manchmal schon.

Renato: Das geht mir genauso. Und erinnert mich an das Gefühl, das ich hatte, als ich damals in die Schweiz gezogen bin. Wir werden immer an zwei Orten zu Hause sein.

Sport Icon
Neuste Texte von Bruno Bötschi? Abonniere den Newsletter

Tamara Krapf, Lebenshof-Betreiberin: «Ich will nicht meine Freunde essen»

Tamara Krapf, Lebenshof-Betreiberin: «Ich will nicht meine Freunde essen»

Tamara und Stefan Krapf leben auf dem Känguruhof in Bernhardzell SG. Das Paar lässt seine Tiere nicht mehr schlachten. Vom Bauernhof zum Lebenshof – begonnen hat alles mit der Liebe zu einem Ochsen.

05.04.2022