In der Radsportsaison 2023 sind bereits vier Rennfahrer tödlich verunglückt. Das sind deutlich mehr als in anderen Jahren. Henri Gammenthaler, langjähriger Kommentator der Tour de Suisse, geht mit blue News auf Ursachenforschung.
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
- Bei einem Rad-Rennen in Japan stirbt Kota Ikarashi nach einem Zusammenprall mit einem PKW. Er ist bereits der vierte Radprofi, der in dieser Saison tödlich verunfallt.
- Rad-Experte Henri Gammenthaler versucht den drastischen Anstieg der Todesfälle zu erklären. Dabei kritisiert er neben den Organisatoren auch die Zuschauer und das immerzu wachsende Spektakel rund um den Radsport.
- Für Gammenthaler droht der Sport durch die aktuellen Entwicklungen seine Wurzeln zu verlieren, denn für ihn ist klar: «Der Radsport muss immer ein Volkssport bleiben.»
Jacopo Venzo (17), Kota Ikarashi (21), Tijl De Decker (22), Gino Mäder (26). Vier junge Radprofis sind in nur drei Monaten tragisch ums Leben gekommen. Jacopo Venzo und Gino Mäder bei Hochgeschwindigkeits-Abfahrten, Kota Ikarashi und Tijl De Decker nach Zusammenstössen mit Autos. Woher kommt die abrupte Häufung tödlicher Unfälle im Radsport?
«Das ist verrückt, früher gab es das höchst selten», so Radsport-Experte Henri Gammenthaler im Gespräch mit blue News. Tatsächlich sind regelmässige tödliche Rennunfälle ein Phänomen, das den Sport erst seit der Jahrtausendwende begleitet. Für die rapide Steigung dieser Zahlen im Jahr 2023 sieht der langjährige Tour-de-Suisse-Kommentator verschiedene Faktoren. Einer sticht dabei heraus.
«Die Organisatoren haben es nicht im Griff»
«Ich habe das Gefühl, dass man heute gar keinen Respekt mehr vor den Leistungen der Fahrer und vor allem vor diesen Geschwindigkeiten hat! Das ist wie beim Turm von Babel. Alles muss immer höher, immer schneller. Und damit steigt natürlich das Risiko», erklärt Gammenthaler. «Dabei gehen die Fahrer doch schon lange an ihre Grenzen.»
Henri Gammenthaler
Henri Gammenthaler analysiert das Radsport-Geschehen für blue News. Der Zürcher war einst selbst Fahrer, später TV- und Radio-Experte und Kommentator der Tour de Suisse.
Eine Teilschuld sieht der 83-Jährige bei den Organisatoren der Rennen. «Die WM-Strecke in Glasgow zum Beispiel. Das überrascht mich schon fast, dass dort niemand gestorben ist, bei so vielen Stürzen. Das war eine Horror-Strecke! Aber leider ist das heutzutage bei vielen anderen Rennen genau gleich. Die Abfahrten sind zu steil, die Passagen zu eng und überall wimmelt es von gefährlichen Kreiseln. Das haben die Organisatoren nicht im Griff.»
Die Rechnung sei letztendlich eine einfache: Je mehr Stürze, desto grösser die Wahrscheinlichkeit für tödliche Unfälle. Der jüngste solche Fall ereignete sich nach der Kollision mit einem PKW. Der Japaner Kota Ikarashi war bei der ersten Etappe der Tour de Hokkaido bei einem Zusammenstoss mit einem Fahrzeug verunfallt, weil die Veranstalter in einer Abfahrt Autos zugelassen hatten. Kurze Zeit später erlag der 21-Jährige im Spital seinen Verletzungen.
Gammenthaler ist entsetzt: «Es kann nicht sein, dass Menschenleben riskiert werden! Es ist heuchlerisch, wenn die Organisatoren immer über Sicherheit sprechen, aber am Ende nichts passiert. Sie scheinen nicht daraus zu lernen.»
Zu schnelle Fahrräder und pöbelnde Fans
Ein grosses Problem sieht Gammenthaler aber auch bei den Zuschauern. «Diese Pseudo-Fans auf den Pässen in Frankreich zum Beispiel. Ich dachte zu meiner Zeit schon, das wäre ein Horror, aber heute hält ja wirklich jeder noch sein Handy auf die Fahrbahn, das ist eine Katastrophe. Dass hier die Polizei nicht öfters eingreift, ist mir ein Rätsel.»
2021 verursachte eine Zuschauerin mit einem Pappschild an der Tour de France einen Massensturz. Damals verhaftete die Polizei die Täterin, später wurde diese von einem Gericht in Brest zu einer Geldstrafe in Höhe von 1200 Euro verurteilt.
Mitverantwortlich für den Anstieg der Todesfälle könnten laut Gammenthaler aber auch die modernen Fahrräder sein. «Die sind ganz speziell gebaut und fahren über 100 Kilometer pro Stunde. Dazu sind sie derart stabil, dass man sich auf hohem Tempo in die kleinsten Löcher im Fahrerfeld manövrieren kann. Wenn man dort nur ganz ein bisschen den Gegner touchiert, ist das eine wahnsinnige Gefahr, dass man stürzt.»
Zum Problem könne das vor allem auf den letzten Kilometern werden – dann, wenn es schnell gehen muss. «Rund zehn Kilometer vor dem Ziel fangen die Sprinter-Teams an, Tempo zu machen. Aber dann kommen leider immer noch unzählige Kreisel, und es muss ja unbedingt noch durch diese kleinen Dörfchen gefahren werden, wo sich das Feld dann auseinanderzieht, und die Fahrer links und rechts am Rand fallen aufs Gesicht.»
«Der Radsport ist fürs Volk»
Das sei alles nicht nötig, findet der 83-Jährige. Auch dass junge Fahrer immer weniger zu sagen hätten und ihnen vom Team sogar verschrieben würde, wie sie sich zu ernähren hätten, das brauche der Radsport alles nicht.
«Das hat für mich nichts mehr mit Sport zu tun, das ist schon fast Extremsport», meint Gammenthaler. «Wenn wir noch weiter in diese Richtung gehen, dann wäre das sehr schade für den Radsport. Wenn man so lange dabei ist wie ich, dann hofft und wünscht man sich, dass sich die Dinge ändern.»
An etwas müsse aber auch ganz klar festgehalten werden, findet Gammenthaler: «Der Radsport muss immer ein Volkssport bleiben.»