Dänemarks Velo-Wunder Schneller als die «Super-Doper» – wie ist das möglich?

Von Luca Betschart

22.7.2023

Jonas Vingegaard ist an der Tour de France das Mass aller Dinge.
Jonas Vingegaard ist an der Tour de France das Mass aller Dinge.
Bild: Imago

Jonas Vingegaard steht an der Tour de France kurz vor der Titelverteidigung. Die Art und Weise, wie der Däne die gesamte Konkurrenz in Grund und Boden fährt, wirft Fragen auf.

Von Luca Betschart

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  • Jonas Vingegaard muss noch zwei Etappen unbeschadet überstehen, um seinen Gesamtsieg bei der Tour de France zu verteidigen.
  • Die erdrückende Dominanz wirft aber Fragen auf, die auch die Rad-Experten nicht beantworten können.
  • Selbst Tour-de-France-Direktor Christian Prudhomme gibt zu: «Die Fragen zu den verschiedenen Verdächtigungen sind absolut nicht unberechtigt.»

Lange deutet an der diesjährigen Tour de France alles auf einen packenden Zweikampf um den Gesamtsieg hin. Jonas Vingegaard und Tadej Pogacar fahren ihren Konkurrenten nach Belieben um die Ohren und weisen nach 15 von 21 Etappen einen eindrücklichen Vorsprung von mehr als fünf Minuten auf alle anderen Fahrer auf – während die Dominanteren an der Spitze des Gesamtklassements nur von mickrigen neun Sekunden getrennt werden. «Und all das mit einer spielerischen Leichtigkeit, die ich noch nie gesehen habe», zeigt sich auch Rad-Experte Henri Gammenthaler tief beeindruckt.

Ab Etappe 16 präsentiert sich dann ein anderes Bild. Vingegaard weist seinen taumelnden Rivalen in die Schranken, baut seinen Vorsprung innert zwei Etappen auf unglaubliche sieben Minuten und 35 Sekunden aus und führt so im Kampf ums Gelbe Trikot wohl die Vorentscheidung herbei. Im Zeitfahren (16. Etappe) ist Vingegaard eineinhalb Minuten schneller als Pogacar, tags darauf in der Königsetappe deklassiert er den Slowenen gar um fast sechs Minuten. Bei mehreren Pässen stellen die beiden neue Gesamt-Rekorde auf. Selbst in der Ära der «Super-Doper» um Lance Armstrong, Jan Ullrich oder Marco Pantani wurden keine solchen Fabel-Zeiten realisiert.  Bei aller Bewunderung drängt sich die Frage auf: Wie ist das möglich?

«Das Team Jumbo-Visma ist schauderhaft»

Zum einen stösst Herausforderer Pogacar in der letzten Tour-Woche offensichtlich an seine Grenzen. «Ich kann nicht mehr, ich bin platt», lautet ein vielsagender Funkspruch des 24-Jährigen, als er auf der 17. Etappe kontinuierlich an Boden einbüsst und seine Hoffnungen auf den Gesamtsieg begraben muss.

Das kommt insofern wenig überraschend, da Pogacar mehrfach alleine den zahlreichen Angriffen von Vingegaards Team Jumbo-Visma ausgeliefert ist. Denn der Titelverteidiger kann auch in diesem Jahr auf hervorragende Unterstützung seiner mit Stars gespickten Mannschaft zählen – mit Edelhelfern wie Wout van Aert oder Christophe Laporte.

Henri Gammenthaler
Bild: zVg

Henri Gammenthaler analysiert das Radsport-Geschehen für «blue Sport». Der Zürcher war einst selbst Fahrer, später TV- und Radio-Experte und Kommentator der Tour de Suisse.

«Das Team Jumbo-Visma ist schauderhaft. Die würden ihr Leben geben für den Teamchef», sagt Gammenthaler und streicht im Vergleich zum Team Emirates einen entscheidenden Erfolgsfaktor heraus: «Pogacars Helfer fahren bei Team Emirates, weil sie dort am meisten Geld verdienen. Ob ich etwas für Geld mache, oder ob ich in einem verschworenen Team bin, ist ein grosser Unterschied.»

Ratlose Experten

Trotz des Starensembles an seiner Seite ist Vingegaards herausgefahrener Vorsprung so gross, dass beim Rad-Experten Zweifel aufkommen. «Wenn Vingegaard in einem Aufstieg auf der Königsetappe rund fünf Minuten schneller ist als Pogacar, ist das unerklärlich», macht Gammenthaler klar. Auch dass Vingegaard auf der 16. Etappe den Schlussanstieg mit dem Zeitfahr-Velo deutlich schneller absolviert als Pogacar, der dafür extra aufs leichtere Velo wechselt, ist nur schwer nachzuvollziehen. «Und ein Fahrer wie Stefan Küng hat über drei Stunden Rückstand. Das ist doch nicht normal, solche Abstände hat es wohl noch nie gegeben», sagt Gammenthaler.  

Vingegaards Überlegenheit ist so erdrückend, dass sich nicht nur Gammenthaler, sondern zahlreiche Experten mit der Einordnung des explosiven Auftritts des dänischen Velo-Wunders schwertun. Selbst Tour-de-France-Direktor Christian Prudhomme gibt zu: «Die Fragen zu den verschiedenen Verdächtigungen sind absolut nicht unberechtigt.»

Und so muss sich Vingegaard schon unmittelbar nach Etappe 17 kritischen Fragen stellen. «Ich verstehe, dass es schwer ist, dem Radsport zu vertrauen, wenn man bedenkt, was in der Vergangenheit passiert ist», sagt der 26-Jährige und beteuert: «Aber ich kann es mit der Hand auf dem Herzen sagen: Ich nehme nichts und ich werde nichts nehmen, was ich nicht meiner zweijährigen Tochter geben würde.» Den Tour-Sieg hat Vingegaard im Sack, um die Anerkennung muss er dagegen wohl noch lange kämpfen.