Die WM in Doha startet mit einem Handicap. Den globalen Titelkämpfen fehlt ein Superstar, der über die Sportart Leichtathletik hinaus fasziniert.
Usain Bolt ist zwar schon seit zwei Jahren aus den Stadien verschwunden, sein Schatten hingegen nicht. In den kommenden anderthalb Wochen wird wohl manch einer mit Wehmut an den Superstar zurückdenken. Für viele sitzt der Blitz aus Jamaika immer noch auf dem Thron der Sprinter. Bolt war ein Garant für die Show, ein Garant für Leistung und ein Garant für die Strahlkraft der Leichtathletik.
Das Fehlen einer Lichtgestalt fällt auf der Stufe Diamond League oder im Zwischenjahr mit EM nicht derart schwer ins Gewicht. Dank der Hausse im Schweizer Lager sind die Top-Meetings Athletissima Lausanne und Weltklasse Zürich nicht auf ein Zug-Pferd wie Bolt angewiesen, um das Stadion zu füllen. Und wenn die Schweizer Asse wie vor einem Jahr in Berlin um die EM-Medaillen kämpfen, braucht es auch kein internationales Aushängeschild, damit der Fernseher eingeschaltet wird.
2019 hingegen sieht es anders aus. Die Leichtathletik steht bei ihrer WM in der Gunst des Publikums wieder in Konkurrenz zu anderen Sportarten. Es gilt, nicht nur die eigene Anhängerschaft zu begeistern, sondern über den Tellerrand der olympischen Kernsportart Nummer 1 hinaus die Massen in ihren Bann zu ziehen. Diesbezüglich ist das Tennis wohl die Vorzeige-Sportart Nummer 1. Mit den Namen Roger Federer, Novak Djokovic und Rafael Nadal können selbst Sport-Desinteressierte etwas anfangen.
Mögliche Nachfolger zumindest in Sicht
Die Frage in Doha lautet also: Wer taugt zum neuen Superstar der Leichtathletik? Und die Antwort dürfte wohl sein: Ein Usain Bolt lässt sich nicht so schnell ersetzen. Immerhin sind Kandidaten in Sicht, welche die Lücke halbwegs füllen können. Allen voran Noah Lyles. Der Favorit über 200 m offenbarte bei Weltklasse Zürich sein Potenzial als Star. Der 22-jährige Amerikaner überzeugte gleich auf mehreren Bühnen: Bei der Vorstellung der Athletinnen und Athleten als Showman, als Sieger der 100-m-Laufes und als Entertainer. Zum Abschluss des Meetings trat er an der Seite von Stabhochspringerin Sandi Morris und der Schweizer Band Baba Shrimps als Sänger auf.
Auch auf Karsten Warholm werden die Augen gerichtet sein. Über 400 m Hürden unterbot der junge Norweger die Marke von 47 Sekunden. Oder der Stabhochsprung-Europameister Armand Duplantis könnte mal ein ganz Grosser werden. Schon als Teenager hat der Schwede die sechs Meter im Griff. Das Image des Amerikaners Christian Coleman hingegen, der womöglich schnellste Mann in Doha, hat schon Kratzer abbekommen. Nur dank einem Trick seiner Anwälte kam er nach drei verpassten Dopingkontrollen ohne Strafe davon.
Und bei den Frauen?
Jelena Isinbajewa, das Glamour Girl aus Wolgograd, hat längst aufgehört. Die Russin sammelte Bestmarken und Medaillen zuhauf. Sie verbesserte den Weltrekord im Freien und in der Halle 30 Mal – zuletzt vor 10 Jahren bei Weltklasse Zürich auf die noch immer gültige Marke von 5,06 m. Shaunae Miller-Uibo vielleicht? Die Frau von den Bahamas dominiert über 200 und 400 m. Ihr Markenzeichen nebst Leistung: Sie färbt ihre Haare vor jedem wichtigen Rennen wieder anders – mal ist es pink, mal grün.
Die Leichtathletik lebt von der Vielfalt ihrer Disziplinen, den vielen verschiedenen Charakteren und natürlich den Medaillenchancen der jeweiligen nationalen Aushängeschilder. Die WM in Doha wird die Leichtathletik-Fans in ihren Bann ziehen. Langweile kommt nicht auf, spannende Duelle warten, vielleicht fallen auch Weltrekorde. Und wer weiss: Womöglich geht im Wüstenstaat doch ein neuer Stern auf, der über die Leichtathletik hinaus strahlt.
Oft brauchen Stars Anlaufzeit, auch Bolt schlug nicht wie der Blitz ein. Vier Jahre lange tingelte er im Tross umher, ehe es funkte. 2004 schied er über 100 m an den Olympischen Spielen in Athen in der 1. Runde aus, 2005 an der WM erreichte er den Final, 2007 in Osaka wurde er WM-Zweiter. Erst danach senkte Bolt zwischen Mai 2008 und August 2009 den 100-m-Weltrekord innerhalb von 15 Monaten um 16 Hundertstel und wurde ein ganz Grosser.