An den US Open im letzten Jahr war Novak Djokovic drauf und dran, Tennisgeschichte zu schreiben. Stattdessen war es bloss der Start einer langen Leidensgeschichte. Ob sich der Serbe davon nochmal erholt?
Am frühen Abend des 12. September 2021 endete in New York der Versuch von Novak Djokovic, sich den ultimativen Tennisorden umzuhängen. Die Trophäen der Australian Open, French Open und von Wimbledon hatte er in diesem Jahr bereits in die Luft gereckt – zur Komplettierung des Grand Slams (alle vier Major-Titel in einem Jahr) fehlte lediglich noch ein letzter Sieg gegen Daniil Medvedev im Finale der US Open.
Es wäre ein historischer Sieg gewesen, nicht nur wegen des Grand Slams. Novak Djokovic wäre als erster Spieler auf 21 Grand-Slam-Titel gekommen und hätte sich den Eintritt in den Tennis-Olymp gesichert. Stattdessen setzte es eine deutliche Niederlage ab, die Djokovic aber gar nicht so sehr kränkte. Immerhin hat er es für einmal geschafft, das Publikum hinter sich zu bringen. Die lauten «Nole»-Rufe rührten den Serben sogar zu Tränen.
Ein Gradmesser für die mentale Stärke
Die Niederlage in New York warf Djokovic nicht aus der Bahn. Er gewann später das Masters-Turnier von Paris und scheiterte beim Masters-Finale in Turin erst an einem stark aufspielenden Alex Zverev. Der Deutsche sagte später über ihn: «Mental ist er der beste Spieler, der dieses Spiel jemals gespielt hat.»
Da ist was dran. Djokovic hat seinen unbändigen Siegeswillen in den letzten Jahren immer wieder unter Beweis gestellt. Er pushte sich in wichtigen Momenten über alle Grenzen. Er riss sich T-Shirts vom Körper, verschaffte seinem Ärger Luft, wenn es nötig war und verwandelte die Antipathie gewisser Fans in Energie auf dem Platz. Seit diesem Jahr allerdings scheint von all dem nicht mehr viel übrig.
Keine Kraft oder keine Lust?
Das Einreisechaos in Melbourne muss an dieser Stelle nicht nochmal in allen Details aufgerollt werden. Aus sportlicher Sicht kann man aber festhalten, dass die Turbulenzen in Australien durchaus ihre Spuren hinterlassen haben. Djokovic fehlt die Matchpraxis, was zuletzt auch deutlich an seinem Takt und Rhythmus auf dem Platz zu erkennen war.
Zwar hat sich der Dominator von 2021 auch gemäss seinen eigenen Angaben seriös auf die Sand-Saison vorbereitet. Von seiner Bestform ist er aber weit entfernt. «Da war kein Sprit mehr im Tank», erklärt Djokovic seine jüngste Niederlage in Monte Carlo gegen den Spanier Alejandro Davidovich Fokina. Er habe sich gefühlt wie ein «Boxer, der in den Seilen hängt». Tatsächlich dokumentierten 20 Breakchancen für seinen Gegner und 45 leichte eigene Fehler, wie weit der 34-jährige Ausnahmespieler von seiner gewohnten Form und Verfassung entfernt ist. So wie zuletzt auch bei seinem Auftritt in Dubai.
Der lange Weg zurück zur Normalität
Was tatsächlich in Djokovics Kopf vor sich geht, darüber kann nur spekuliert werden. Doch sollte er nur einen Bruchteil der kritischen Stimmen über seine Impfeinstellung mitbekommen haben, dürften diese schwer zu verdauen sein. Der frühere Sandplatz-Spezialist Marcelo Rios nannte ihn kürzlich den «König der Dummheit», weil Djokovic mit seiner Einstellung die gesamte Karriere aufs Spiel setze.
Über die Geschehnisse in Melbourne sagte Djokovic: «Ich wurde öffentlich gedemütigt, auf einer Weltbühne.» Mit einem Interview mit der BBC wollte er im Februar deshalb seine Sichtweise darlegen und hat wohl gehofft, dass damit eine gewisse Normalität zurückkehrt. Vielleicht war das auch der Fall, nicht aber aus sportlicher Sicht.
Zu grossen Comebacks fähig
Wie es für die Weltnummer 1 in den nächsten Wochen weitergeht, ist momentan offen. Djokovic sagt dazu: «Das muss ich erst mal verdauen. Ich weiss nicht, was der Grund für dieses schwache Spiel war», so der 34-Jährige, «ich werde mich jetzt mit meinem Team beraten müssen.»
Ab Mai stünden mit Madrid und Rom die nächsten Sandturnier-Highlights auf dem Programm, ehe Ende Monat die French Open beginnen. Dort hatte Djokovic vor einem Jahr sogar Rafael Nadal in die Knie gezwungen. Dass ihm dieses Kunststück 2022 erneut gelingt, scheint äusserst unrealistisch. Doch genau wie Federer und Nadal, sollte man auch Djokovic niemals abschreiben.
Auch er hat der Tenniswelt schon öfter bewiesen, zu welchen Comebacks er fähig ist. Scheidungsgerüchte, seine Arbeit mit einem Liebes-Guru und die zwischenzeitliche Trennung von Trainer Marian Vajda waren dabei noch die harmloseren Tiefs, die Djokovic erfolgreich überwunden hat.