Politkrimi in TokioPolitkrimi in Tokio: Olympia-Alptraum für belarussische Sprinterin
Von Christian Hollmann, Hannah Wagner und Lars Nicolaysen, dpa
2.8.2021 - 23:55
Eine belarussische Olympia-Teilnehmerin soll angeblich von den Behörden aus Tokio in ihre Heimat entführt werden. Der Fall wird zum internationalen Politkrimi. Nun bekommt Kristina Timanowskaja Asyl in Polen. Folgen weitere IOC-Sanktionen gegen Belarus?
02.08.2021, 23:55
03.08.2021, 00:01
dpa
Auf der Flucht vor dem Zorn des belarussischen Machthabers Alexander Lukaschenko endete der olympische Alptraum von Kristina Timanowskaja in der polnischen Botschaft in Tokio. Einer laut der Opposition ihres Landes drohenden Entführung aus Japan entkommen, erhielt die Sprinterin am Montag in Polens Vertretung ein humanitäres Visum. Zuvor hatte die 24-Jährige die Nacht in einem Hotel am Flughafen Haneda in einer «sicheren Umgebung» verbracht, wie ein Sprecher des Internationalen Olympischen Komitees sagte. In ihrer Sorge vor einer von den autoritären Behörden ihres Landes erzwungenen Rückkehr nach Minsk hatte sich Timanowskaja an die japanische Polizei gewendet.
Die zuvor international eher unbekannte Athletin war damit plötzlich zum Mittelpunkt eines Politkrimis geworden, der weit über die Sportbühne hinausreicht. Die oppositionelle belarussische Athletenvertretung Belarusian Sport Solidarity Foundation (BSSF) und Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja verschafften dem Fall mit ihrem Einsatz grosse Aufmerksamkeit.
❗️Kristina Timanovskaya asks the International Olympic Committee for help
«I am asking the International Olympic Committee for help,pressure has been put on me and they are trying to take me out of the country without my consent,so I am asking the @iocmedia to intervene in this» pic.twitter.com/W0TlSzI0Bh
Erst Tschechien, dann Polen und am Montag auch Slowenien boten Timanowskaja humanitäres Asyl an. Frankreichs Europa-Staatssekretär Clément Beaune bestätigte dem französischen Sender RFI: «Innerhalb Europas gibt es Überlegungen, der Sprinterin politisches Asyl zu gewähren.» Die deutsche Bundesregierung forderte die Behörden in Belarus zur Achtung demokratischer Grundrechte auf. Schikane, Verfolgung und Einschüchterung würden auf das Schärfste verurteilt, sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes.
Es sei wichtig, «dass jedem, der um Schutz, den Flüchtlingsstatus bittet, diese Möglichkeit geboten wird», sagte UN-Sprecher Stephane Dujarric am Montag. «Die japanischen Behörden haben alles getan, um sie zu schützen, und ich denke, das ist der wichtigste Teil. Niemand sollte gezwungen werden, unter Drohung oder unter Zwang nach Hause zu gehen», betonte Dujarric.
Am Montag stieg Timanowskaja dann mit Basecap, schwarzem T-Shirt und Rucksack vor der polnischen Botschaft aus einem Auto und nahm ihr Visum entgegen. BSSF-Aktivisten teilten mit, für Mittwoch bereits einen Flug nach Warschau für die Athletin gebucht zu haben.
«Wir verstehen, dass da vermutlich irgendwas geplant wurde»
Auslöser der Affäre war offenkundig Timanowskajas öffentliche Kritik an belarussischen Sportfunktionären. Ihr Trainer Juri Moisewitsch sagte dem Staatsfernsehen ONT, die Sportlerin habe mit einem Teil der Delegation heimreisen sollen, «um dann in Ruhe zu bewerten, zu klären, was los ist». Aber es sei anders gekommen. «Wir verstehen, dass da vermutlich irgendwas geplant wurde», sagte der Coach.
Das Nationale Olympische Komitee von Belarus hatte auf Telegram erklärt, die Athletin sei von einem Arzt untersucht worden und werde wegen ihrer «emotional-psychischen Verfassung» nicht an weiteren Wettkämpfen in Tokio teilnehmen. Timanowskaja bezeichnete das als «Lüge». Dem Radiosender Euroradio sagte sie: «Sie haben mir einfach gesagt, meine Sachen zu packen und nach Hause zu fliegen.» Die BSSF sprach von einer versuchten «gewaltsamen» Ausreise. Die Sportrichter des Cas wiesen am Montag den Eilantrag der Sprinterin gegen ihre Nichtnominierung für die 200-Meter-Vorläufe ab – Begründung: Sie habe nicht ausreichend Beweise in ihrer Sache geliefert.
Das IOC forderte vom belarussischen NOK einen schriftlichen Bericht an. Man müsse zunächst die genaueren Hintergründe und Einzelheiten zu dem Vorfall abwarten, sagte IOC-Sprecher Mark Adams. Der Dachverband werde mit Timanowskaja weiter darüber sprechen, was sie vorhabe und werde sie bei ihrer Entscheidung «unterstützen».
95 inhaftierte Athleten
Sollten sich die Vorwürfe gegen Belarus bestätigen, käme «auch ein Ausschluss des belarussischen Regimes vom internationalen Sportsystem und eine Suspendierung des belarussischen Nationalen Olympischen Komitees in Frage», sagte Sprecher Maximilian Klein.
Seit der von der EU nicht anerkannten Präsidentenwahl in Belarus im vergangenen Sommer, bei der sich Lukaschenko zum Sieger erklärt hatte, solidarisierten sich viele früher linientreue Sportler des Landes mit der politischen Opposition. Hunderte von ihnen hatten einen offenen Brief unterschrieben gegen den «letzten Diktator Europas», wie Gegner Lukaschenko nennen. Laut eines von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International am Montag veröffentlichten Berichts sind 95 Athleten wegen ihrer Kritik inhaftiert worden.
Bei Protesten in den Monaten nach der Wahl gab es mehrere Tote, Hunderte Verletzte und Tausende Festnahmen. Viele Menschen in Belarus fordern ein Ende der Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten, die Freilassung politscher Gefangener und Neuwahlen ohne Lukaschenko.
Auch beim IOC ist der Machthaber seit einiger Zeit in Ungnade gefallen. Lukaschenko und sein Sohn Viktor wurden von allen olympischen Aktivitäten und damit auch den Tokio-Spielen ausgeschlossen. Die Führung des NOK um Lukaschenko habe Athleten nicht ausreichend vor politischer Diskriminierung innerhalb der Sportorganisationen des Landes geschützt, begründete IOC-Chef Thomas Bach im vergangenen Dezember die Sanktionen. Auch alle finanziellen Zuwendungen für das NOK von Belarus wurden vorerst eingestellt.
Lukaschenko hatte daraufhin mit einem Gerichtsverfahren gedroht. «Sollen doch Bach und seine Bande erzählen, worin meine Schuld liegt», wetterte er.
Von Christian Hollmann, Hannah Wagner und Lars Nicolaysen, dpa