Am Sonntag geht es für die Schweiz gegen die Türkei um alles. Da kommen auch wieder Erinnerungen an 2005 hoch, als ein Barrage-Spiel mit all seinem Hass und Aggressivität in die Geschichtsbücher einging.
Auf der Strasse lagen sich Schweizer-Fans in den Armen, während unweit mehrere Männer aufeinander einprügelten und sich mit Biergläser bewarfen. Blut auf dem Asphalt. Polizei-Sirenen. Diese Szenen ereigneten sich in der Altstadt von Winterthur, wo ich damals das denkwürdige Barrage-Spiel zwischen der Türkei und der Schweiz in einer Bar mitverfolgte.
Innert Sekunden nach dem Schlusspfiff ist die ganze aggressive und gewaltvolle Stimmung, die im Sükrü-Saracoglu-Stadion herrschte, auf andere Schauplätze übergeschwappt. Die Qualifikation der Nati für die WM 2006 verkam zur Nebensache. Stattdessen ging dieses Spiel als die «Schande von Istanbul» in die Fussball-Geschichtsbücher ein.
Fatih Terim wird zum Terrier
Schon lange vor dem Rückspiel knisterte es gewaltig. Der damalige Türken-Trainer Fatih Terim unterliess nach dem Hinspiel in Bern, das die Nati mit 2:0 gewonnen hatte, keine Möglichkeit, über die Schweizer herzuziehen. Er beklagte sich über schlechte Trainingsbedingungen, unfaire Medien und Pfiffe aus dem Publikum. «Die Schweiz ist eigentlich ein zivilisiertes Land. Was in Bern geschah, passt nicht zu einem zivilisierten Land. Sie lachen dir ins Gesicht, aber hintenrum dreckeln sie», fasste er all das zusammen.
Für die türkischen Medien waren diese Worte natürlich ein gefundenes Fressen, um noch weiter Stimmung gegen die Schweiz zu machen. Und so gestaltete sich schon die Ankunft der Nati in Istanbul zum Albtraum. Bei der Passkontrolle nahmen es einige Zöllner ganz genau, sodass die Einreise über zwei Stunden dauerte. Andere Flughafenmitarbeiter wollten den Nati-Stars schwere Materialkisten auf die Füsse fallen lassen wie die «NZZ» schreibt und bei der Fahrt ins Hotel wurde der Teambus mit Steinen, Tomaten und Eiern beworfen.
Bange Minuten der Angst
Die geladene Stimmung sollte aber erst im Stadion ihren absoluten Höhepunkt erreichen. Während der Schweizer Hymne war das Pfeiffkonzert der türkischen Fans so laut, dass die Eidgenossen keinen Ton vom Schweizer Psalm mehr mitbekamen.
Auf dem Feld ging es nicht weniger ruppig zur Sache, erst Recht nach Alex Freis frühem Führungstreffer für die Nati. Verbale Auseinandersetzungen und giftige Zweikämpfe gab es im Sekundentakt. Immerhin eskalierte die Situation nicht vollkommen, was primär zwei Toren des Gastgebers zu verdanken war.
Aus sportlicher Sicht hätte die zweite Halbzeit kaum spannender sein können. Relativ früh erhöhten die Türken auf 3:1, womit ihnen nur noch ein Tor für die WM-Qualifikation fehlte. Marco Streller liess die Hoffnungen mit seinem Treffer zum 2:3 aber wieder schwinden, ehe Tuncay in der 89. Minute den Zweitore-Abstand wieder herstellte. Es folgten für viele Spieler die wohl längsten Minuten ihrer Karriere. Umso mehr, weil der Schiedsrichter auch noch ewig nachspielen liess.
Unschöne Erinnerungen für die Ewigkeit
Mit dem Schlusspfiff brachen alle Dämme. Mit den letzten Kraftreserven, welche die Spieler noch hatten, sprinteten sie in die Kabine. Aus den Rängen wurden sie mit allen möglichen Gegenständen beworfen. Einige schafften es allerdings nicht so weit. Benjamin Huggel und Valon Behrami gerieten in ein Handgemenge, genauso wie Stéphane Grichting, der später ins Spital eingeliefert werden musste.
Wer sich retten konnte, dem war trotz der WM-Qualifikation nicht zum Feiern zumute. Stattdessen harrten die Spieler zweieinhalb Stunden in ihrer Kabine, ehe sie ins Hotel zurückfahren konnten.
Einige Spieler sprechen heute nicht mehr gerne über die «Schande von Istanbul». Auch Benjamin Huggel, heute Experte beim Schweizer Fernsehen ist der Ansicht, dass alles gesagt sei. In einem Podcast mit dem Sportmagazin «No. 1» vor ein paar Jahren sagte Huggel, es habe Momente gegeben, in denen er sich geschämt habe für sein Verhalten. «Aber ich habe meine Strafe erhalten und abgesessen», sagte er. Und: «Ich kann meine Reaktion heute verständlich finden.»
An diesem Sonntag geht es für die beiden Teams nicht um die WM, aber um den Achtelfinal-Einzug an der Euro. Praktisch alle Akteure haben das historische Spiel damals höchstens am Fernseher miterlebt. Vergessen haben sie es wohl alle nicht, aber es bleibt zu hoffen, dass sie vergeben haben.