In der vierten Runde der Champions League treffen die Young Boys auf Schachtar Donezk. Bei den Ukrainern ist der Fussball während Kriegszeiten nur eine Nebensache. Ukraine-Kenner Thomas Grimm klärt auf.
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
- Der Schweizer Fussball-Funktionär Thomas Grimm war zwei Jahre lang Liga-Präsident in der Ukraine.
- Im Gespräch mit blue Sport verrät Grimm, was die grössten Herausforderungen für die ukrainischen Fussballer sind.
- Den Krieg bringe man in der Ukraine natürlich nicht aus dem Kopf, aber der Fussball sei eine wichtige Ablenkung, erklärt Grimm.
Thomas Grimm kennt YB-Gegner Schachtar Donezk bestens. Schliesslich war der Schweizer Funktionär von 2018 bis 2020 Präsident der ukrainischen Fussballliga. Vor dem Champions-League-Spiel zwischen den Young Boys und Schachtar Donezk spricht Grimm mit blue Sport über die Situation in der Ukraine und erklärt, was der Krieg für das Land und die Fussballer bedeutet.
Heute Abend spielt Schachtar Donezk in der Champions League gegen die Young Boys. Schauen die Menschen in der Ukraine in der jetzigen Situation solche Spiele überhaupt?
Die Leute, welche die Möglichkeit haben, Schachtar zu verfolgen, die machen das. Und es ist halt schon so, der Krieg ist da, den bringt man nicht aus dem Kopf, aber es ist trotzdem eine Ablenkung für die Leute, weil das Leben muss irgendwie weitergehen und man muss mit dieser Situation umgehen können.
Was heisst, mit der Situation umgehen können?
Man muss damit leben können, dass man jede Nacht wegen eines Sirenenalarms in den Bunker oder Luftschutzkeller muss. Man muss darauf hoffen, dass wenn wieder ein Drohnenangriff kommt, dass man nicht zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort ist. Aber es ist für diese Leute dennoch eine Zerstreuung. Die EM war für die ukrainische Bevölkerung zum Beispiel sehr wichtig, dass man dort solche guten Auftritte hatte.
Müssen die Profifussballer von ukrainischen Topklubs befürchten, dass sie für den Krieg einbezogen werden?
Davon gehe ich nicht aus. Vor allem die Spitzenfussballer dürften verschont werden, wenn sie sich nicht gerade als Freiwillige melden. Es geht auch darum, dass sie ja auf die Ukraine aufmerksam machen, wenn sie im Ausland sind. Zudem spielen ein Grossteil der Nationalspieler bei Schachtar und Dynamo Kiew. Es wäre also auch sportpolitisch keine gute Idee, sie einzuziehen. Dazu kommt, dass Fussballer natürlich nicht als Soldaten an der Front taugen. Fussballspieler wären sicher eher schlechte Soldaten.
Was sind die gravierendsten Einschnitte, den der Profifussball in der Ukraine aktuell hat?
Ich glaube, es gibt fast eine endlose Liste, weil es nicht mehr so ist, wie es vor dem Krieg war. Alleine schon die Infrastruktur, viele Stadien wurden bombardiert und sind nicht mehr benutzbar. Die Vereine mussten in den Westen der Ukraine ausweichen. Dort gibt es immer noch Restriktionen bezüglich der Zahl der Zuschauer, die ins Stadion dürfen. Man muss immer noch damit rechnen, dass die Stadien mit einem Sirenenalarm innert kürzester Zeit geräumt werden müssen. Dazu kommt, dass logischerweise das Geld fehlt. Es gibt keine Fernsehstation, welche die Rechte gekauft hat, die Sponsoren sind ebenfalls nicht da.
Warum hält man den Liga-Betrieb denn trotz all dieser Probleme, die Sie angesprochen haben, aufrecht?
Ich glaube, es hat eine Bedeutung für die Ukraine, für die ukrainische Bevölkerung, dass sie Fussball schauen können. Aber auf der anderen Seite ist es natürlich nicht so, wie bei einem Industriebetrieb, wo man die Maschine abstellen kann und nach zwei Jahren wieder anlässt. Die Frage hat sich ja auch gestellt, schon nachdem der Krieg im Februar 2022 angefangen hat. Da mussten wir logischerweise die Meisterschaft unterbrechen, respektive abbrechen. Aber wir haben gesagt, wenn der ukrainische Fussball eine gewisse Zukunft haben soll, dann muss man irgendwie einen Liga-Betrieb aufrechterhalten, weil sonst würde eine ganze Generation von Fussballern verschwinden.
Wie können die Vereine in diesen Zeiten finanziell überleben?
Diejenigen, die in der Liga mitspielen, können natürlich nur überleben, weil sie profitieren von Teilnahmen an den UEFA-Pokal-Wettbewerben und dass sie immer noch Eigentümer haben – Geschäftsmänner – die versuchen, das Geschäft am Leben zu erhalten. Aber rein durch Match-Einnahmen, also im Schnitt hat man etwa 1000 Zuschauer, ist im Moment nicht viel Geld zu verdienen.
Wie ist denn im Moment die Zuschauer-Situation?
Es ist von Landesteil zu Landesteil unterschiedlich. Bevor ein Match gespielt wird, muss die lokale Behörde ihre Zustimmung geben. Die bestimmt auch, wie viele Leute im Stadion sein dürfen. Es ist halt so, dass man sich auch an das Schlechte gewöhnt. Die Leute sind sich einfach gewohnt, sei das im Supermarkt oder an einem Fussballspiel, dass sie damit rechnen müssen, dass sie bei einem Sirenenalarm in den Schutzraum müssen.
Wie ist das emotional für Sie, der ja Land, Liga und Fussballer so gut kennt?
Es ist für mich sehr schwierig. Vor allem ganz am Anfang, als ich sah, wie die Städte zerstört wurden, die ich sehr gut kannte. Ich musste zuschauen, wie meine Leute ständig in Gefahr waren. Das hat mich schon sehr belastet, weil ich ja jeden einzelnen gekannt habe. Ich wusste, die sind hoch motiviert und sehr gut ausgebildet. Und in den nächsten fünf bis zehn Jahren ist dort Stillstand. Die Entwicklung, die sie gerne nehmen würden, wäre Richtung Westen. Man kam nie auf die Idee, sich jetzt wieder Russland anzuschliessen. Für die moderne, neue Ukraine gab es klar nur den Weg Richtung Westen. Dass Herr Putin aus Moskau nun einen anderen Weg vorgibt, das belastet mich immer noch.
Mi 06.11. 18:10 - 21:00 ∙ blue Sport Live ∙ FC Shakhtar Donetsk - BSC Young Boys
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