Kommentar Die Personalie Neymar: Zu viel Ego für den Henkelpott?

Von Tobias Benz, Lissabon

21.8.2020

Neymar stellt im Mai 2019 in Paris sein eigenes Parfum zur Schau.
Neymar stellt im Mai 2019 in Paris sein eigenes Parfum zur Schau.
Bild: Getty

Kaum ein Spieler spaltet die Gemüter so sehr wie PSG-Stürmer Neymar. Sein fussballerisches Können ist dabei unbestritten, es ist das Ego des 28-Jährigen, das seinen Ruf und seine Erfolge seit Jahren behindert. Gelingt es ihm am Sonntag, für 90 Minuten darauf zu verzichten?

Neymar weiss, wie man die Champions League gewinnt. 2015 gelang ihm das mit dem FC Barcelona. Damals allerdings an der Seite von Andres Iniesta, Luis Suarez und Lionel Messi, weswegen der Erfolg trotz seines Treffers im Finalspiel gegen Juventus Turin grundsätzlich dem Kollektiv und – wie alles bei den Katalanen – Messi zugeschrieben wurde. Das passte dem damals 23-Jährigen überhaupt nicht ins Konzept.

Neymar will im Mittelpunkt stehen, das ist an seinen Worten, seiner Gestik und unschwer auch an seinem Spielstil zu erkennen. Der Brasilianer ist kein normaler Fussballer, er ist ein Künstler – und ein Künstler braucht nunmal seine Bühne. Deshalb liess er sich 2017 unter grossem Trara für die völlig absurde Summe von 222 Millionen Euro von Barcelona nach Paris verfrachten – natürlich ein Weltrekord. Das gefiel ihm schon besser.

Der Showman in seinem Element: Neymar vor einem Plakat von Oben-ohne-Neymar.
Der Showman in seinem Element: Neymar vor einem Plakat von Oben-ohne-Neymar.
Bild: Getty

Immer noch keinen Ballon d'Or

In der französischen Hauptstadt liess sich Neymar dann aber ein bisschen zu sehr gehen. Sein Ruf litt unter Gerüchten und Fotos von wilden Partys und fehlender Motivation auf dem Trainingsplatz. Auch die Erfolge blieben weg: Zwar gewann PSG seit Neymars Ankunft dreimal die Meisterschaft und vier nationale Pokale, aber das war beim Hauptstadtklub mangels ernsthafter Konkurrenz auch schon vorher so.



In der Champions League scheiterte PSG Jahr für Jahr früh. Die Schuld daran trug zwar nicht Neymar, schliesslich fehlte er in den entscheidenden Spielen der vergangenen zwei Kampagnen jeweils verletzungsbedingt, trotzdem blieb der so sehr erhoffte internationale Beifall aus. Mehr noch: Er machte sich mit seinen Showeinlagen – auf wie neben dem Platz – mehr Feinde als Freunde. Der Brasilianer drohte in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden – und in gewisser Weise ist er das auch. Nach wie vor wartet der 28-Jährige nämlich auf seinen ersten Ballon d’Or – etwas, das vor fünf Jahren kaum jemand für möglich gehalten hätte.

Unter Tuchel plötzlich mannschaftsdienlich

Dieses Jahr könnte sich aber alles ändern. Paris steht im Final der Champions League und spielt am Sonntagabend in Lissabon zu guter Letzt um das lang ersehnte Ziel: den Henkelpott. Neymar trägt grossen Anteil an den jüngsten Erfolgen. Der Stürmer glänzt zwar am Final-8-Turnier bisher nicht als der grosse Goalgetter, dafür stellt er sich unter Thomas Tuchel endlich in den Dienst der Mannschaft.

Der Brasilianer zeigt in Portugal eine nie dagewesene Bereitschaft, sich auch an der Laufarbeit des Teams zu beteiligen, wenn der Gegner in Ballbesitz ist. Und: Neymar muss nicht mehr immer alles alleine machen. Ein perfektes Beispiel dafür ist die Nachspielzeit im Viertelfinalspiel gegen Atalanta. Der 28-Jährige ist an den beiden Blitztoren, die das Debakel gegen Bergamo in letzter Sekunde abwenden, massgeblich beteiligt. Zuerst legt er in der 90. Minute für den einschussbereiten Marquinhos quer, anstatt aus gut fünf Metern selber abzuziehen – wie er es vor ein paar Jahren zweifellos noch getan hätte – dann, zwei Minuten später, wählt er aus guter Schussposition den simplen und doch genialen Steilpass zu Kylian Mbappé, der wiederum auf Siegtorschütze Choupo-Moting weiterleitet.


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Sein Ego stellt Neymar auch im Halbfinal gegen RB Leipzig in den Hintergrund. Beim vorentscheidenden 2:0 durch Angel di Maria assistiert der Brasilianer wunderschön per Hacke. Ein Assist, wie ihn nur Neymar geben kann – aber eben ein Assist. Der 222-Millionen-Mann hat endlich verstanden, worauf es im Fussball wirklich ankommt, wenn man die ganz grossen Dinge erreichen will.

Die grosse Frage ist nun, ob er diese Einstellung auch am Finaltag gegen das Kollektiv FC Bayern München an den Tag legt. Sollte es ihm gelingen, sein Ego am Sonntag für weitere 90 Minuten zu vergessen, ist PSG dem ewigen Ziel einen grossen Schritt näher – andernfalls wird den Bayern das Triple wohl kaum noch zu nehmen sein.

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