Untote Macht Zu männlich: Warum Christina von Schwedens Totenruhe gestört wurde

Von David Eugster

25.12.2019

Christina of Sweden, gemalt von Sébastien Bourdon im Jahre 1653 – heute im Prado. 
Christina of Sweden, gemalt von Sébastien Bourdon im Jahre 1653 – heute im Prado. 
Bild: Wikicommons

Christina von Schweden hat ihre Haare nicht oft genug gewaschen, trat bestimmt auf und hat nie geheiratet. Doch Forscher brannten noch Jahrhunderte später darauf, ihrer Leiche zwischen die Beine zu schauen.

Hin und wieder treiben die Genitalien mächtiger Männer die Geschichtsschreibung um: Vor allem dann, wenn sie verschwinden. Doch in einem besonderen Fall war es das fehlende Glied einer Königin, das Forschern Sorgen bereitete: bei Königin Christina von Schweden, die vor 500 Jahren amtete.

Das Beste von 2019

Zum Jahresende bringt «Bluewin» die Lieblingsstücke des ablaufenden Jahres noch einmal. Dieser Text erschien zum ersten Mal am 4. Juli 2019.

Ein Vaterkind

Christina wurde 1632 mit sechs Jahren Thronfolgerin, nachdem ihr Vater, der schwedische König Gustav Adolf, auf dem Schlachtfeld getötet worden war. Seinem Wunsch entsprechend erzog man sie am Hof wie einen Prinzen. Christina lernte Jagen, Reiten, mehrere Sprachen und las in der Kirche gern antike Philosophen. Als sie dann mit 18 Jahren den Thron bestieg, hatte sie mit einer zarten Prinzessin nichts gemein: Sie trug grobe Hemden, Reitstiefel, ihr Haar war stets zerzaust. In ihren Memoiren schrieb sie: «Obschon du, Gott, mich dazu verurteilt hast, dem schwächeren Geschlecht anzugehören, hast du mir doch seine gewöhnlichen Unzulänglichkeiten erlassen.»

Christina fluchte wie ein Kutscher und stutzte jeden, der sich mit ihr anlegte, zu Recht – manchmal mit Worten, manchmal sogar mit Kopfnüssen. Ihre Hofdamen und Zofen schmiss sie aus ihren Gemächern – nur eine durfte bleiben: Ihr war sie sexuell verfallen, wie schwülstige Briefe an jene Untergebene bezeugen.

Einige Kardinäle und die Leiche Christinas von Schweden 1965.
Einige Kardinäle und die Leiche Christinas von Schweden 1965.
Bild: Liv Strömquist/Avant Verlag

Christina war eine aufgeklärte Fürstin. Sie verbot Hexenprozesse, holte Philosophen an ihren Hof und förderte die Künste und das Theater. Unter ihr durften Frauen Schauspielerinnen und Sängerinnen sein. Doch bereits nach zehn Jahren dankte sie ab, wurde zum Ärger des (protestantischen) schwedischen Hofes überraschend Katholikin und schlug sich als Mann verkleidet nach Rom durch – beglückt empfing man die Bekehrte dort. Nach ihrem Tod 1689 wurde sie mit allen Würden im Petersdom bestattet.

Die Autopsie

Christina von Schweden wurde im 20. Jahrhundert zu einer Ikone der Frauen- und Lesbenbewegung. Die Journalistin und Schriftstellerin Laure Wyss, eine wichtige Stimme der Schweizer Frauenbewegung, widmete ihr in den 1990er-Jahren ein Buch.

Feindselige Zeitgenossen hatten sie insbesondere wegen ihrer angeblich endlosen Serie an männlichen wie weiblichen Bettgesellen angegriffen. Und vor allem verärgerte Protestanten beschimpften sie nach ihrem Übertritt zum Katholizismus als «Hure beider Geschlechter». Sicher ist: Christina verwischte mit ihrem Auftreten Geschlechterrollen.

Weib mit männlichen Talenten

Doch erst im 20. Jahrhundert erlangte Christina die volle Aufmerksamkeit von Forschern – beziehungsweise ihr Unterleib. 1937 widmete etwa der schwedische Arzt Elis Essen-Möller Christina eine Studie. Darin beschrieb er einen Verdacht, der die Forschung von nun an beschäftigen sollte. Ihm stiess die Tatsache auf, dass Königin Christina «männliche Talente» in Astronomie und Mathematik gezeigt habe, während sie gleichzeitig – aus Sicht des Forschers typisch weiblich – wechselhaft und unstet gewesen sei.

Dieser für ihn unauflösbare Widerspruch führte Essen-Möller zur These, dass Christina ohne Zweifel intersexuell gewesen sein müsse. Bestätigt sah er sich in der Tatsache, dass Christina weder Kinder haben noch Schmuck tragen wollte und sich manchmal 14 Tage lang nicht kämmte. Keine biologisch normale Frau würde sich so verhalten.

Essen-Möllers Leumund war nicht der beste: So war er einer der Mitgründer des schwedischen Instituts für Rassenhygiene, und als Gynäkologe setzte er sich für Zwangssterilisationen geistig kranker Frauen ein. Dennoch fand man seine These wissenschaftlich noch in den 1950er-Jahren hochrelevant. Weiterhin wurde behauptet, Christinas merkwürdiges Verhalten lasse eindeutig darauf schliessen, dass sie auch körperlich Geschlechternormen gesprengt habe.

Untote Macht

Wenn Mächtige sterben, betreibt man immer einen grösseren Aufwand, um sie zu verabschieden. Für Lady Di wurden beispielsweise 10'000 Tonnen Blumen niedergelegt. Aber manche Mächtige gelten als so unentbehrlich, dass man sie gar nicht gehen lassen will. Sie werden mumifiziert, in Mausoleen verehrt und beschäftigen noch als Tote die Nachwelt. Um Anekdoten aus der Geschichte dieser untoten Macht dreht sich diese Reihe.

Ein auf historische Frauenbiografien spezialisierter Schriftsteller war überzeugt, dass Königin Christina aus medizinischer Sicht eindeutig ein «Hermaphrodit» sei. Er begründete das damit, dass «nie ein Mann sexuelles Interesse an ihr gezeigt» habe. Doch der Beweis für Christinas mutmassliche Intersexualität blieb aus – und damit das Mysterium bestehen.

Erst in den 1960er-Jahren ergab sich die Möglichkeit, Christinas Leiche gründlich zwischen die Beine zu schauen. Anlässlich einer Ausstellung wurde ihr Grab geöffnet, um sich ihre silberne Totenmaske auszuleihen. Und Carl-Hermann Hjortso, ein schwedischer Medizinhistoriker, sah die Möglichkeit gekommen, die aus seiner Sicht letzte grosse Frage bezüglich der Königin Christina aufzudecken: die Frage nach ihrem biologischen Geschlecht.

Die historischen Quellen schienen Hjortso alle wenig zu helfen. Denn auch der Obduktionsbericht, den Ärzte nach Christinas Tod angefertigt hatten, enthielt keinerlei Bemerkungen zu ihrem Geschlecht. Und ausgerechnet dort, wo Hjortso das Wort «Gebärmutter» vermutete, war die Handschrift der Ärzte unleserlich. 

Ausgegraben und untersucht

Liv Strömquist hat jene Geschichte in ihrem Comic-Buch «Der Ursprung der Welt» erwähnt. Dort schreibt sie, selten hätte jemand ein derart ausgeprägtes Interesse am weiblichen Geschlechtsorgan einer Toten gezeigt wie die Exhumierer Christinas.

Bild: Liv Strömquist/Avant Verlag

Entscheidend sollte sein: Als man Christinas Skelett aus dem Grab holte, untersuchte man die Form ihres Beckenknochens. Und Hjortso, der nichts als die Rettung der weibliche Ehre der toten Königin im Sinne hatte, konnte am Schluss seines Berichtes 1966 Entwarnung geben: Ihr Skelett stamme allen Anzeichen nach von einer Frau, und, so schrieb er beruhigt, ihr Becken hätte sie von der Konstruktion her eigentlich nicht gehindert, Kinder zu bekommen.

Christina meinte einmal: «Ich habe keine Lust, der Acker eines Mannes zu sein.» Dass sie aufgrund der Suche nach ihrem Geschlecht dennoch umgegraben werden würde, konnte sie damals ja nicht ahnen.

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