Neues SachbuchEpidemiologe: «Eine Impfung ist kein Hustenzuckerl»
Von Gil Bieler
12.12.2020
Schon in absehbarer Zeit dürfte wohl auch in der Schweiz ein Coronavirus-Impfstoff bereitstehen. Würden Sie sich impfen lassen? Der österreichische Epidemiologe Herwig Kollaritsch will bei der Entscheidungsfindung helfen.
Wenn dieser Tage vom «Rennen um einen Corona-Impfstoff» die Rede ist, hat das schon seine Richtigkeit: In Echtzeit und detailliert erleben wir alle mit, wie Pharmafirmen unter Hochdruck ein Vakzin gegen ein neues Virus entwickeln.
Dabei tun sich dem Laien vielerlei Fragen auf: Kann ein in solchem Tempo entwickelter Impfstoff überhaupt sicher sein? Wirkt er auch? Und was ist mit Nebenwirkungen? Am Ende läuft alles auf die sehr persönliche Entscheidung hinaus: Soll ich mich gegen das Coronavirus impfen lassen oder nicht?
Für etwas Orientierungshilfe soll das Buch «Pro und Contra Corona-Impfung» sorgen, das der österreichische Epidemiologe Herwig Kollaritsch zusammen mit der Journalistin Silvia Jelincic verfasst hat. Kollaritsch hat selbst schon an der Entwicklung mehrerer Impfstoffe mitgearbeitet und ist unter anderem Mitglied des Covid-Beraterstabes der österreichischen Regierung. Er ist also vom Fach.
Weniger Emotionen
Mit dem Buch wolle er zu einer Versachlichung der hochemotional geführten Impfdiskussion beitragen, so Kollaritsch. «Alles, was ich erreichen will, ist, dass möglichst viele Menschen rational statt emotional entscheiden.» Ein hehres Ziel: Nur schon ein Blick in die sozialen Medien zeigt, wie unversöhnlich sich Gegner und Befürworter oft gegenüberstehen.
Zum Buch
zVg
Herwig Kollaritsch/Silvia Jelincic: «Pro & Contra: Corona-Impfung». Verlag Edition A, 128 Seiten, ca. 18 Franken. ISBN: 978-3-99001-511-7.
Kollaritsch selbst ist ein Impfbefürworter. Trotzdem bemüht er sich im Buch redlich darum, Bedenken ernst zu nehmen – diese hätten schliesslich ihre Berechtigung. «Eine Impfung ist kein Hustenzuckerl», so der Autor. Und er sagt auch: Es gebe keine Wirkung ohne Nebenwirkung.
Klar ist: Wer Impfungen generell für des Teufels hält, wird Kollaritsch kein Gehör schenken. Für alle anderen kann die Lektüre durchaus interessant sein. In leicht verständlicher Sprache und kurzen Kapiteln erklärt der Mediziner, was es mit Fachbegriffen wie dem RNA-Verfahren auf sich hat, wie Impfstoffe vor der Zulassung überhaupt getestet werden, er bringt Anekdoten aus seiner eigenen Erfahrung ein und beleuchtet viele strittige Punkte.
Einer davon: Kann ein quasi über Nacht entwickelter Wirkstoff sicher sein? Kollaritsch sieht jedenfalls keine Anhaltspunkte, die dagegen sprächen. So hätten die Pharmafirmen zwar den Ablauf der Tests abgeändert – die einzelnen Testphasen würden aufgrund des Zeitdrucks nicht nacheinander, sondern parallel vorgenommen. Kompetente Wissenschaftler könnten das aber problemlos stemmen, befindet er. Auch ändere sich dadurch nichts am Zeitraum, über den die Probanden insgesamt beobachtet würden.
Zudem hätten die Pharmakonzerne noch enger als gewohnt mit den Behörden zusammengearbeitet, indem sie zum Beispiel auch Daten zu Teilergebnissen vorgelegt hätten. Und sie würden sich auf eine ungewöhnlich grosse Zahl von Testpersonen stützen. «Insgesamt waren diese Entwicklungen in den Konzernen und bei den Behörden dermassen priorisiert, dass Fehler im Zuge des Zulassungsverfahrens noch unwahrscheinlicher sind als sonst», urteilt Kollaritsch. Der finanzielle und der Reputationsschaden wären schlicht zu gross.
Wirkung ohne Risiko gibt es nicht
Doch Risiken gibt es immer – und gerade im Falle von Impfungen werde besonders kritisch auf mögliche Folgeschäden geachtet: Eine Impfung verabreiche man schliesslich einem gesunden Menschen, um ihn vor einer künftigen Erkrankung zu schützen. Im Gegensatz zu einer Meniskus-Operation – bei der es ebenfalls zu Komplikationen kommen könne – fehle also ein «Leidensdruck», so Kollaritsch.
Mit Blick auf die bisherigen Studienergebnisse traten vor allem zwei Nebenwirkungen auf, die von den Probanden als «sehr unangenehm» eingestuft wurden: Kopfschmerzen und Müdigkeit. Diese Symptome hätten meist zwischen zwei und maximal vier Tage angehalten. Bei einer Wirksamkeit der Impfstoffe von 90 Prozent bestehe nach Adam Riese also ein 90-prozentiges Risiko, dass man nach der Impfung etwas von diesen Nebenwirkungen spüre. Für den persönlichen Impfentscheid rät Kollaritsch, dieses Risiko dem erhofften Nutzen einer Impfung gegenüberzustellen.
Was ist aber mit unerwarteten und womöglich schwerwiegenden Nebenwirkungen? Diese seien zwar nicht ganz auszuschliessen, dürften aber «ganz sicher mit einer Wahrscheinlichkeit von weniger als 1:10'000 auftreten», so Kollaritsch. Dieser Wert lasse sich anhand der bereits bekannten Studiendaten absichern.
Generell hat er grosses Vertrauen in die Impfstoff-Herstellung: In den rund 20 Jahren, seit das 3-Phasen-Prüfverfahrens angewendet werde, müssten Impfstoffe nur noch «extrem selten» aufgrund unerwartet auftauchender Spätfolgen vom Markt genommen werden. «Je jünger Impfstoffe sind, desto seltener passiert es. Aber es passiert.»
Eine Anfrage bei der Schweizer Zulassungsbehörde Swissmedic ergab, dass auch der Schweizer Hersteller Berna Biotech im Juni 2002 sein Produkt Nasalflu vom Markt genommen hatte – freiwillig. «Das Produkt war bereits im September 2001 wegen Hinweisen auf gehäuftes Auftreten von Gesichtslähmungen aus dem Handel genommen worden», teilt Swissmedic «blue News» mit.
Umfrage
Würden Sie sich gegen das Coronavirus impfen lassen?
Kollaritsch erwähnt in seinem Buch die erste Generation eines Impfstoffs gegen das Rotavirus: Dieser sei vom Markt genommen worden, weil er bei Kindern in seltenen Fällen eine Darmsteinstülpung verursacht habe, die unbehandelt tödlich verlaufen konnte.
Demgegenüber steht der Nutzen des Wirkstoffs: So habe der Impfstoff hunderttausenden Kindern weltweit das Leben gerettet, die Zahl der Todesfälle sank von einer halben Million auf rund 200'000 pro Jahr.
Daher plädiert Kollaritsch dafür, immer die Relationen im Blick zu behalten: «Um selbst solche Risiken ausschliessen zu können, wären so viele Probanden nötig, dass die Pharmaindustrie bei der Entwicklung neuer Impfstoffe an ihre Grenzen stossen würde. Das ganze System würde nicht mehr funktionieren», so Kollaritsch. Die Folge wäre, dass gar keine Impfstoffe mehr entwickelt würden. Im Falle des Coronavirus bedeutete dies, dass wir dem Erreger «vollkommen nackt» gegenüberstehen würden.
Der Preis einer Durchseuchung
Das Virus einfach wüten zu lassen, lässt der Mediziner nicht als Alternative durchgehen: Bei einer Infektions-Sterblichkeitsrate von 0,3 bis 0,6 Prozent würden allein in Österreich 26'700 bis 53'400 Menschen sterben, weltweit wären es bis zu 46 Millionen Menschen. «Selbst damit wäre die Sache noch nicht erledigt. Denn wie lange die Immunität gegen COVID-19 danach anhält, wissen wir noch nicht. Irgendwann endet sie wieder. (…) Dann beginnt sich der verhängnisvolle Kreislauf von Neuem zu drehen.»
Auf die Grundsatzfrage, ob es einen Covid-Impfstoff braucht, gibt es für Kollaritsch aus epidemiologischer Sicht nur eine richtige Antwort. Die sehr persönliche Frage – impfen lassen, ja oder nein – müsse dagegen jeder für sich selbst aufgrund seines persönlichen Risikos beantworten. Viele weitere Denkanstösse findet, wer dafür empfänglich ist, in diesem Buch.
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