Hilferuf vom AKW Saporischschja «Die Besatzer verstecken sich hinter uns und unseren Kindern»

Von Philipp Dahm

26.8.2022

Ukrainisches Akw Saporischschja ist offenbar wieder am Netz

Ukrainisches Akw Saporischschja ist offenbar wieder am Netz

Das von russischen Truppen besetzte ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja ist nach Angaben der Betreibergesellschaft Energoatom wieder ans Stromnetz angeschlossen.

26.08.2022

Es ist das Sorgenkind Europas: Die Not-Abschaltung des Kernkraftwerks Saporischschja macht nicht nur in Osteuropa Angst. Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Thema.

Von Philipp Dahm

Was ist passiert?

Nach ukrainischen Angaben hat das Sicherheitssystem am 25. August die letzten beiden noch laufenden Reaktoren abgeschaltet, weil die Verbindung zum ukrainischen Stromnetz unterbrochen worden ist. Insgesamt gibt es vier solcher Verbindungen, von denen drei im Verlauf des Krieges beschädigt worden sind. Am 25. August sei auch die vierte 750-Kilovolt-Leitung mindestens zweimal unterbrochen worden, meldete die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA).

Warum ist die Netz-Verbindung so wichtig?

Ein wassergekühlter Reaktor nutzt seinen nuklearen Brennstoff, um Hitze zu erzeugen. Diese verdampft Wasser zu Dampf, der Turbinen antreibt, die Strom erzeugen. Elektrisch betriebene Kühlsysteme sorgen dafür, dass es im Reaktor nicht zu heiss wird.

«Wenn die Kühlung unterbrochen wird, kann der Brennstoff innert Stunden [kritische] Temperaturen erreichen», erklärt Ed Lyman, der in den USA für die Reaktorsicherheit verantwortlich ist. «Wenn eine angemessene Kühlung nicht wiederhergestellt wird, kann der [nukleare] Brennstoff das stählerne Gefäss des Reaktors schmelzen. Im schwerwiegendsten Fall kann die eindämmende Struktur ein Leck oder einen Riss bekommen und Fusionsprodukte in die Umwelt entlassen.»

Gibt es eine Sicherung?

Weil sogar selbst ein abgeschaltetes AKW Kühlung braucht, hat die Anlage in Saporischschja eine Lebensversicherung, die am 25. August gegriffen hat. Es handelt sich um eine 330-Kilovolt-Leitung zu einem nahe gelegenen Kohle-Kraftwerk. Wenn auch diese Verbindung unterbrochen werden würde, gibt es im Kraftwerk Diesel-Generatoren, die aber nur kurzfristig einspringen könnten.

Das Wärme- und das Kernkraftwerk Saporischschja von Westen aus gesehen: Links im Hintergrund zwischen Kühlturm und den beiden hohen Schornsteinen das Wärmekraftwerk; rechts im Vordergrund die sechs Blöcke des Kernkraftwerks.
Das Wärme- und das Kernkraftwerk Saporischschja von Westen aus gesehen: Links im Hintergrund zwischen Kühlturm und den beiden hohen Schornsteinen das Wärmekraftwerk; rechts im Vordergrund die sechs Blöcke des Kernkraftwerks.
Archivbild: Commons/Ralf1969

Wie ist die Lage aktuell?

Die Replik in einem Wort: unübersichtlich. Das Fire Information for Resource Management System der US-Weltraumbehörde NASA zeigt beim AKW mehrere Brände. Ukrainische Behörden haben mitgeteilt, alle Reaktoren seien heruntergefahren worden. Russland behauptet dagegen, einer der Meiler sei wieder in Betrieb.

Was ist mit den Mitarbeitern?

Russland hat zwar eigene Ingenieure nach Saporischschja geschickt, die aber nur die Aufsicht derjenigen übernehmen, die vor der Eroberung im AKW gearbeitet haben. Diese Angestellten werden gezwungen, den Betrieb weiter aufrechtzuerhalten.

Diese Menschen, die in Enerhodar leben, wenden sich am 25. August mit einem Video an ihren Präsidenten und die Weltöffentlichkeit: «Wir werden heute von russischen Truppen als Geiseln gehalten», sagt einer. «Sie bedrohen die ganze Welt mit einer nuklearen Katastrophe. Die Besatzer verstecken sich hinter uns und unseren Kindern.»

«Wir können nicht auf die Strassen unserer Stadt gehen», berichtet ein anderer. «Unsere Kinder leben in Angst.» Menschen würden von russischen Soldaten verschleppt, bei Hausdurchsuchungen würden sie beraubt. «Die Leute verschwinden einfach.» Sie bitten Wolodymyr Selenskyj, Enerhodar zu befreien.

Hat das AKW militärischen Wert?

Die ukrainischen Streitkräfte haben in den letzten Wochen bewiesen, welchen Schaden sie mit der Artillerie anrichten können, die ihnen der Westen geliefert hat: Von Munitionslagern über Kommandozentren bis hin zu Brücken sind in Rauch aufgegangen.

Dass die russischen Angreifer deswegen Deckung suchen, ist nachvollziehbar. Dass sie aber das AKW Saporischschja nicht nur nutzen, um Mensch und Material zu schützen, sondern auch, um von dort aus Städte wie Krywyj Rih mit Artillerie oder Raketen zu beschiessen, ist gefährlich. Russland wirft der Ukraine übrigens ebenfalls vor, immer wieder Saporischschja unter Artilleriefeuer zu nehmen.

Wie geht es weiter?

Kiew drängt auf einen baldigen Besuch internationaler Experten. Vertreter der IAEA und der Vereinten Nationen sollten unter anderem nukleare Sicherheitsstandards untersuchen, schrieb der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko in der Nacht zum 26. August auf Facebook. Haluschtschenko forderte zudem den kompletten Rückzug der russischen Truppen von dem AKW-Gelände.

IAEA-Direktor Rafael Grossi bekräftigte nach dem Vorfall am 25. August seine Bereitschaft, in den kommenden Tagen mit Experten nach Saporischschja zu fahren. Bislang ist eine solche Mission wegen Uneinigkeiten über die genauen Reisemodalitäten nicht zustande gekommen. Moskau selbst hat eine Demilitarisierung des AKWs ins Spiel gebracht, dem Vorschlag aber keinerlei Taten folgen lassen.