Saporischschja Wie Russland Europas grösstes AKW zum Schutzschild macht

toko

4.8.2022

Ein russischer Soldat steht Wache auf dem Gelände des Atomkraftwerks Saporischschja im Südosten der Ukraine. 
Ein russischer Soldat steht Wache auf dem Gelände des Atomkraftwerks Saporischschja im Südosten der Ukraine. 
AP/Keystone (Archivbild)

Seit einigen Wochen feuern russische Truppen offenbar unter dem Schutz des Kernkraftwerks Saporischschja. Die Angst, die Ukraine könne ein zweites Mal zum Schauplatz einer nuklearen Katastrophe werden, steigt weiter. 

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Seit einigen Wochen feuern russische Truppen offenbar unter dem Schutz des Kernkraftwerks Saporischschja. Die Angst, die Ukraine könne ein zweites Mal zum Schauplatz einer nuklearen Katastrophe werden, steigt weiter.

Nicht so bei den russischen Truppen in der Umgebung des Atomkraftwerks Saporischschja — oder sogar auf dem Gelände der Anlage. Die Fernschützen wissen ganz genau, dass sie hier keinen Gegenschlag fürchten müssen.

Das Atomkraftwerk hatten Putins Truppen bereits Anfang März eingenommen. Seit einigen Wochen jedoch wird vom Gelände aus auch geschossen, berichten mehrere Medien unter Berufung auf zivile und militärische ukrainische Offizielle. Russland bestreitet dies.

Lage «ausser Kontrolle»

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) hatte auch unabhängig von den beunruhigenden Berichten vor einem möglichen Nuklearunfall im Atomkraftwerk gewarnt.

Die Lage in Europas grösster Atomanlage sei «komplett ausser Kontrolle», erklärte IAEA-Generaldirektor Rafael Grossi, der einen dringenden Aufruf an Russland und die Ukraine veröffentlichte, Experten Zugang zu ermöglichen, um einen nuklearen Zwischenfall zu verhindern.

«Jeder Grundsatz der nuklearen Sicherheit wurde verletzt», erklärte er. «Was auf dem Spiel steht, ist äusserst ernst und extrem schwerwiegend und gefährlich.» Grossi nannte mehrere Sicherheitsverstösse und fügte hinzu, die Anlage befinde sich an einem Ort des Krieges.

Zudem sei die physische Unversehrtheit der Anlage nicht respektiert worden, sagte er mit Blick auf den Beschuss des Werks bei dessen Einnahme sowie auf fortdauernde Informationen von der Ukraine und Russland, die sich gegenseitig Angriffe vorwarfen.

Ukrainische AKW Teil der Strategie

Die grosse Gefahrenlage in Saporischschja ist nur das jüngste Beispiel einer Reihe von Zwischenfällen. Das Atomkraftwerk, das grösste in Europa, stand schon kurz nach Beginn des russischen Angriffskrieges im Fokus. Die Bilder von einem Brand nach Bombeneinschlägen auf dem Gelände der Anlage entfachten Anfang März weltweit die Angst vor einer nuklearen Katastrophe. 

Videostandbild von einem Brand im Kernkraftwerk Saporischschja. Russische Streitkräfte beschossen Anfang März Europas grösstes Kernkraftwerk und entfachten ein Feuer.
Videostandbild von einem Brand im Kernkraftwerk Saporischschja. Russische Streitkräfte beschossen Anfang März Europas grösstes Kernkraftwerk und entfachten ein Feuer.
Uncredited/Kernkraftwerk Saporischschja via AP/dpa

Über die Hälfte des Strombedarfs wird in der Ukraine mit Kernenergie gedeckt. Dass Russland die ukrainischen AKWs in seine militärische Strategie einbezieht, deutete sich bereits am ersten Tag des Angriffskrieges an, als Putins Truppen die Ruinen von Tschernobyl besetzten.

Dabei nahm die russische Führung offenbar ebenso wenig Rücksicht auf die eigenen Truppen wie auf ihre Opfer in der Ukraine. So bauten Soldaten der Armee ohne besondere Schutzkleidung Verteidigungsanlagen auf und bezogen Stellung in der Umgebung des Kernkraftwerks.

Das schwere Gerät der Russen wirbelte dabei so viel radioaktiven Staub auf, dass die Gamma-Strahlenbelastung um das zwanzigfache anstieg. Mittlerweile haben die Streitkräfte das Gebiet wieder verlassen.

«Sie verstecken sich dort, um nicht getroffen zu werden»

Nicht so in Saporischschja: Dem ukrainischen Verteidigungsministerium zufolge befinden sich innerhalb der Anlage nunmehr insgesamt 500 Soldaten, 50 Fahrzeuge, Munition sowie Artilleriegeschütze. Die «New York Times» berichtet, Russland habe die Anlage in Saporischschja mittlerweile zu einer «Festung» ausgebaut. 

Militärischen und zivilen ukrainischen Behörden zufolge feuerten russische Truppen seit Mitte Juli aus der Deckung Raketen ab. «Sie verstecken sich dort, um nicht getroffen zu werden», sagt der Bürgermeister von Nikopol der Zeitung demnach und fügt hinzu: «Es ist sehr gefährlich, ein solches Objekt als Schutzschild zu verwenden.»

Die Stadt Nikopol wird noch immer von der Ukraine kontrolliert und befindet sich auf der anderen Seite des Flusses Dnipro. Militärische und zivile Einrichtungen auf dem Stadtgebiet sind für die russischen Streitkräfte daher ein leichtes Ziel. Die ukrainischen Truppen am anderen Ufer können nicht zurück schiessen, ohne eine nukleare Katastrophe zu riskieren. 

Angegriffen haben sie offenbar trotzdem: So wurden bei einer Präzisionsattacke mit einer Kamikaze-Drohne laut ukrainischen Angaben Soldaten und Material der russischen Armee zerstört — nur rund 140 Meter entfernt von einem der sechs Atomreaktoren.

Laut Energoatom, der staatlichen Gesellschaft, die das Kernkraftwerk noch immer betreibt, reagierte Russland, indem es schwere Waffen, Munition Sprengköpfe im Turbinenraum in einem der Reaktoren deponierte. 

Wie gefährlich die Scharmützel in der Region sind, sagt Eugeni Panov, ein ehemaliger Mitarbeiter des Kraftwerks zu «El País»:

«Tschernobyl wäre ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was hier passieren könnte. »

Russland gewährt Journalisten Zugang zu Akw Saporischschja in der Ukraine

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