Sensationsfund Forscher entdecken neuen Vorfahren des Menschen in Süddeutschland

dpa/toko

6.11.2019

Es sind nur wenige Knochen aus einem Bach im Unterallgäu, doch für die Wissenschaft könnten sie eine Sensation bedeuten: Sind die fast zwölf Millionen Jahre alten Funde der Beleg dafür, dass sich der aufrechte Gang im Gegensatz zur bisherigen Lehrmeinung nicht in Afrika entwickelt hat?

Der aufrechte Gang des heutigen Menschen soll sich nach jüngeren Funden einer internationalen Forschergruppe in Europa und nicht wie bislang angenommen in Afrika entwickelt haben.

Der neu entdeckte mögliche Vorfahr von Mensch und Menschenaffe habe sich wohl bereits vor fast zwölf Millionen Jahren auf zwei Beinen fortbewegen können, vermutet ein Forschungsteam um Madelaine Böhme von der Universität Tübingen und des Senckenberg Center for Human Evolution and Palaeoenvironment in einer im Fachmagazin «Nature» veröffentlichten Studie. Das wäre mehrere Millionen Jahre früher als Wissenschaftler bislang zumeist angenommen hatten.

Knochen der Hand eines männlichen Danuvius guggenmosi. Die versteinerten Fossilien wurden in einem Bachlauf der Tongrube «Hammerschmiede» im Unterallgäu entdeckt.
Knochen der Hand eines männlichen Danuvius guggenmosi. Die versteinerten Fossilien wurden in einem Bachlauf der Tongrube «Hammerschmiede» im Unterallgäu entdeckt.
Bild: Christoph Jäckle/Nature/dpa

«Sternstunde der Paläoanthropologie»

«Das ist eine Sternstunde der Paläoanthropologie und ein Paradigmenwechsel», sagte Böhme der Nachrichtenagentur dpa. Die Funde stellten die bisherige Sichtweise auf die Evolution der grossen Menschenaffen und des Menschen grundlegend in Frage. «Dass sich der Prozess des aufrechten Gangs in Europa vollzog, erschüttert die Grundfeste der Paläoanthropologie», sagte Böhme. Sie hält es für «nahezu ausgeschlossen», dass in Afrika noch ältere aufrecht gehende Menschenaffenformen existierten.

Das Team hatte zwischen 2015 und 2018 in einem Bachlauf der Tongrube «Hammerschmiede» im Unterallgäu die versteinerten Fossilien einer bislang unbekannten Primatenart entdeckt. Der sogenannte Danuvius guggenmosi habe vor 11,62 Millionen Jahren gelebt und sich wahrscheinlich sowohl auf zwei Beinen als auch kletternd fortbewegt. «Bislang war der aufrechte Gang ein ausschliessliches Merkmal von Menschen. Aber Danuvius war ein Menschenaffe», sagte Böhme. Die bislang ältesten Belege für den aufrechten Gang sind rund sechs Millionen Jahre alt und stammen von der Insel Kreta und aus Kenia.

Madelaine Böhme, Professorin für Paläoklimatologie an der Universität Tübingen, steht neben Knochen der bisher unbekannten Primatenart Danuvius guggenmosi.
Madelaine Böhme, Professorin für Paläoklimatologie an der Universität Tübingen, steht neben Knochen der bisher unbekannten Primatenart Danuvius guggenmosi.
Bild: Sebastian Gollnow/dpa

Aus der Tongrube im Ostallgäu bargen die Paläontologen 37 Einzelfunde. Darunter waren vollständig erhaltene Arm- und Beinknochen, Wirbel, Finger- und Zehenknochen – insgesamt 15 Prozent eines Skeletts. «Damit liess sich rekonstruieren, wie sich Danuvius fortbewegte», sagte Böhme. «Zum ersten Mal konnten wir mehrere funktionell wichtige Gelenke – darunter Ellbogen, Hüfte, Knie und Sprunggelenk – in einem einzigen fossilen Skelett dieses Alters untersuchen», erklärte die Professorin. «Zu unserem Erstaunen ähnelten einige Knochen mehr dem Menschen als dem Menschenaffen.»

So habe Danuvius seinen Rumpf durch eine S-förmige Wirbelsäule aufrecht halten können, während Menschenaffen lediglich eine einfach gebogene Wirbelsäule besitzen. Nach Böhmes Angaben hatte Danuvius ausserdem X-Beine und ein stabiles Fussgelenk – für Menschenaffen, die sich kletternd fortbewegten, wäre beides ungeschickt. Mit seinen verhältnismässig langen Armen und seinen Greiffüssen hatte Danuvius aber entscheidende Merkmale von Baumbewohnern und zählt nach Böhmes Einschätzung deshalb zu den Menschenaffen.

Männchen wogen 31 Kilogramm

«Danuvius kombinierte die von den hinteren Gliedmassen dominierte Zweibeinigkeit mit dem von den vorderen Gliedmassen dominierten Klettern», sagte Mitautor David Begun von der University of Toronto. Nach Einschätzung der Forscher war der «neue Vorfahr des Menschen» etwa einen Meter gross. Die Weibchen, von denen ebenfalls Teile eines Exemplars in der Tongrube gefunden wurden, dürften etwa 18 Kilogramm gewogen haben, das gefundene Männchen 31 Kilogramm.

Für Tracy Kivell, Professorin an der University of Kent, beantwortet der Fund vor allem einige noch offene Fragen: Zusammengenommen böten die Funde das bislang beste Modell, um zu zeigen, wie ein gemeinsamer Vorfahr von Mensch und afrikanischen Menschenaffen ausgesehen haben könnte, erklärte Kivell, die selbst nicht an der Analyse beteiligt war, in einer in «Nature» veröffentlichten Einschätzung zur Studie.

Böhme zufolge ernährte sich Danuvius eher von härteren Pflanzenteilen als von weichen Blättern. In der Gegend um das heutige Kaufbeuren gab es Auenwälder und viele Niederschläge, mit etwa 20 Grad war die durchschnittliche Jahrestemperatur wärmer als heute.

Die 21 Knochen des am besten erhaltenen Teilskeletts eines männlichen Danuvius guggenmosi.
Die 21 Knochen des am besten erhaltenen Teilskeletts eines männlichen Danuvius guggenmosi.
Christoph Jäckle/Nature/dpa

Das männliche Fossil hat das Forscherteam auf den Beinamen «Udo» getauft – nach Sänger Udo Lindenberg. Den Unterkiefer des Primaten entdeckten die Wissenschaftler am 17. Mai 2016 – Udo Lindenbergs 70. Geburtstag. «Im Radio sind nur seine Songs gelaufen», erinnerte sich Böhme. Der als Panikrocker bekannte Musiker hatte sich nach Böhmes Angaben zunächst noch nicht zu seiner Namenspatenschaft für das Allgäuer Menschenaffenmännchen geäussert.

Nach Einschätzung der Paläontologin dürften weitere Funde die Erkenntnisse aus dem Danuvius-Fund stützen. Von einem Weibchen wurden bereits Zähne, ein Finger und ein kompletter Oberschenkel ausgegraben. Auch von einem jungen Exemplar liegen gut erhaltene Reste vor. Ausserdem erwartet die Tübinger Paläontologin weitere erfolgreiche Ausgrabungen in dem Bachbett der Tongrube. «Das muss man sich vorstellen wie ein Puzzle, in das immer mehr Teile eingefügt werden.»


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