Experten-Interview «Unwiderruflicher Schub» – Krise krempelt Wirtschaft um

Von Philipp Dahm

27.3.2020

Geschlossenes Geschäft in St. Gallen: Die Notlage gilt nicht nur für das Land, sondern auch für so manchen Firmenumsatz.
Geschlossenes Geschäft in St. Gallen: Die Notlage gilt nicht nur für das Land, sondern auch für so manchen Firmenumsatz.
Bild: Keystone

Wirtschaftsprofessor Ernst Fehr glaubt nicht, dass die Milliardenspritze des Bundesrats das letzte Pflaster für die Wirtschaft gewesen ist. Die leidet auf mehreren Ebenen unter der Coronakrise, verdeutlicht er im Interview.

Ernst Fehr belegt in der Liste der Schweizer Top-Ökonomen regelmässig den Spitzenplatz. «Bluewin» konnte mit dem Wirtschaftsprofessor der Universität Zürich über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise sprechen, die unser Konsumverhalten und unsere Arbeitswelt verändert. Die Pandemie sorgt für jede Menge Unsicherheit – befeuert auch dadurch, dass die Daten-Grundlage in der aktuellen Situation noch recht dürftig ist.

Herr Fehr, wie ordnen Sie die wirtschaftlichen Hilfsmassnahmen des Bundesrats ein?

Es ist gut, dass der Bundesrat jetzt diese 42 Milliarden zur Verfügung stellt: Das hat sicher zur Beruhigung beigetragen. Gleichzeitig ist es so, dass die wirtschaftlichen Kosten der Produktionsstilllegungen – vor allem in der Luftfahrt und Tourismusindustrie und anderen Dienstleistungsbranchen –, natürlich erheblich sind.

Ausgezeichneter Ökonom: Ernst Fehr lehrt seit 1994 an der Universität Zürich und Direktor des Instituts für Volkswirtschaftslehre.
Ausgezeichneter Ökonom: Ernst Fehr lehrt seit 1994 an der Universität Zürich und Direktor des Instituts für Volkswirtschaftslehre.
Bild: Uni ZH

Es gibt bereits höhere Forderungen – welche Zahl ist nun die ‹richtige›?

Wenn Experten, wie die ETH-Kollegen, gesagt haben, es müssten 100 Milliarden sein, haben sie wahrscheinlich gute Gründe. Aber welche Zahl man jetzt auch immer nennt – sie ist stets mit Unsicherheit behaftet. Es ist leicht vorstellbar, dass die 42 Milliarden des Bundesrats nicht ausreichen. Aber man kann ja erstmal sequentiell vorgehen – das ist ja nicht das letzte Wort des Bundesrats. Wenn der Druck weiter steigt, werden weltweit noch weitere Massnahmen erfolgen – man muss ja nicht gleich das ganze Pulver verschiessen.

Das Wichtigste im Überblick

  • Die Schweizer KMU werden von der Coronakrise hart getroffen; jedes sechste fürchtet deswegen laut einer Umfrage den Konkurs.
  • Die Vereinigten Staaten haben nach Angaben von US-Experten inzwischen mehr bekannte Coronavirus-Infektionen als jedes andere Land.
  • Die Coronavirus-Krise führt zu einem Boom von Sendungen bei der Schweizerischen Post.
  • Weltweit gibt es mehr als eine halbe Million Corona-Infizierte. Ein besonders prominenter: Boris Johnson, der britische Premier.
  • Das EU-Parlament ebnet den Weg für Investitionsoffensive wegen der Coronavirus-Krise.
  • Erste bewaffnete Gruppen folgen dem Uno-Aufruf zum Waffenstillstand.

Was ist Ihrer Meinung nach jetzt prioritär?

Es muss viel mehr getestet werden. Niemand kennt die derzeitige Infektionsrate. Und niemand weiss, wieviele Personen infiziert waren, mittlerweile aber wieder gesund sind. Es ist sehr wichtig, dass wir eine bessere Datenbasis haben, um die Vor- und Nachteile verschiedener Massnahmen abzuwägen.

Gibt es Branchen, deren Probleme gerade nicht wahrgenommen werden?

Branchen, die leiden, melden sich in der Öffentlichkeit oder über ihre Verbände. Ich habe auch den Eindruck, dass das Kleingewerbe ganz massiv betroffen ist. Gerade die Selbstständigen mit keinen oder ganz wenigen Beschäftigten – die Selbständigen sind keine Arbeitnehmer die für sich Kurzarbeit beantragen können.

Verlorene Nachfrage: Geschlossenes Café in Bern.
Verlorene Nachfrage: Geschlossenes Café in Bern.
Bild: Keystone

Können Sie die Probleme der hauptsächlich betroffenen Branchen veranschaulichen?

Die Nachfrage, die in den Dienstleistungsbranchen jetzt nicht befriedigt werden kann, ist für immer verloren. Die Leute gehen nicht öfter zum Coiffeur, sollten die Beschränkungen aufgehoben werden, oder essen dann öfter im Restaurant. Die Einnahmen sind unwiderruflich weg, und das sind natürlich schmerzliche Verluste.



Glauben Sie, es könnten juristische Forderungen aufkommen, Selbstständige oder Unternehmen müssten Gegenleistungen für das Bezogene erbringen?

Der Staat hat bestimmten Firmen und Branchen verboten, ihr Gewerbe weiterzuführen. Da ist es nur Recht und billig, wenn der Staat durch Kurzarbeitergeld, Kredite oder Bürgschaften auch für Kompensation sorgt. Und der Eingriff macht Sinn, das sieht ja in dieser Lage auch jeder ein. Juristisch ist das meiste geregelt.

Chronologie der Coronakrise

Worin unterscheidet sich Europa in der ökonomischen Krise von den USA?

In der Schweiz, Deutschland und Österreich gibt es die Kurzarbeiter-Unterstützung. Die Leute beziehen beispielsweise 80 Prozent ihres Gehalts und bleiben bei ihrer Firma angestellt. In den USA gab es jetzt riesige Auseinandersetzungen, weil die Republikaner den Firmen viel Geld geben wollten, ohne dass die Unternehmen garantieren konnten, dass sie die Leute beschäftigen. Bei uns wird das durch die Möglichkeit zur Kurzarbeit, bei welcher die meisten Arbeitnehmer ja bei ihrer Firma bleiben, im Normalfall gar kein Thema.

Was halten Sie von dem Schweizer Konstrukt, bei dem der Staat zusammen mit der Finanzaufsicht und den Banken die Verteilung übernimmt?

Aus praktischen Erwägungen kommt man um die Banken gar nicht herum: Sie haben den Kontakt zum Kunden, nicht die Regierung. Und dafür staatliche Institutionen aus dem Boden zu stampfen, ist weder möglich noch wünschenswert. Es würde nicht schnell gehen, und wenn der Zweck solcher Institutionen erreicht ist, sucht man oft alternative Beschäftigungen für sie. Es ist klug, in dieser Situation eine Kooperation mit den Banken zu machen.

Wird Bern etwas von dem Geld wiedersehen?

Das Geld aus der Kurzarbeiter-Unterstützung kommt ja aus der Arbeitslosenkasse und ist damit ausgegeben. Aber es ist ja auch der Zweck dieser Unterstützung, dafür zu sorgen, dass Leute ohne Lohn ein Einkommen beziehen können. Die Kredite, die vergeben werden, muss man davon unterscheiden.

Das müssen Sie bitte erklären.

Es sind Kredite, für die der Bund die Bürgschaft übernimmt. Warum macht er das? Weil man weiss, dass viele dieser Kredite womöglich nicht zurückgezahlt werden können und Banken, die nach privatwirtschaftlichen Kriterien handeln würden, diese wahrscheinlich gar nicht gewähren würden. Mit anderen Worten: Dass der Bund bürgt, heisst nichts anderes, dass hier vermutlich Rückzahlungen nicht stattfinden können und die öffentliche Hand dafür aufkommen wird. Aber auf diesem Wege bleibt beim Kreditnehmer eine gewisse Motivation bestehen, das verbürgte Darlehen auch zurückzuzahlen.

Grounding: Die Swiss-Flotte am Flughafen Zürich-Kloten.
Grounding: Die Swiss-Flotte am Flughafen Zürich-Kloten.
Bild: Keystone

Die Swiss hat ihrem Mutterkonzern Lufthansa in den letzten Jahren Millionengewinne eingeflogen. Muss nun Deutschland oder die Schweiz einspringen, wenn die Airline Probleme bekommt?

Ich würde sagen, sowohl die Lufthansa und der deutsche Staat haben ein Interesse an einer funktionierenden Swiss wie auch die Schweiz. Sie ist ja nach wie vor ein wichtiges Unternehmen für das Land, auch wenn sie jetzt zur Lufthansa gehört – insofern müssten auch beide Staaten helfen.



Wie lange können Staat und Wirtschaft diese Situation noch aushalten?

Das ist immer eine Frage des Grades: Wenn der Shutdown auf diesem Niveau mehrere Monate weiterginge, wären die Schäden enorm. China macht zwar Hoffnung, dass die Pandemie einzugrenzen ist, aber der Produktionsausfall wird schon einige Prozentpunkte vom Bruttoinlandsprodukt kosten. Aber wir in der Schweiz sind in der glücklichen Lage, dass unser Staat solide finanziert ist und wir wenig Schulden haben. Deshalb können wir die Hilfe auch leisten.

Die Krise wirkt sich auf die Arbeitswelt aus: Kommt bald das Homeoffice für alle?

Die Firmen werden unterschiedliche Erfahrungen damit machen. Einige werden feststellen, dass das gut funktioniert, aber andere werden merken: Man kommt dabei nicht immer zum Arbeiten. Das weiss jeder, der zu Hause nebenbei noch kleine Kinder betreuen muss, aber so gesehen ist das ja auch nicht das «natürliche Homeoffice». Aber weil einige Firmen jetzt wahrscheinlich die Erfahrung machen, dass es gar nicht so schlecht funktioniert, glaube ich schon, dass Homeoffice in Zukunft stärker praktiziert werden wird. Wir haben hier beim Institut für Volkswirtschaftslehre Mitarbeiter, die schon vor der Corona-Krise ein bis zwei Tage in der Woche von zu Hause gearbeitet haben – und das klappte immer hervorragend.

Welche Auswirkungen hat die Krise auf unser Konsumverhalten?

Es wird einen unwiderruflichen Schub für den Online-Handel geben: Viele Leute lernen jetzt gerade, wie man das macht. Diejenigen, die Berührungsängste hatten, machen das jetzt und stellen womöglich fest: Das ist bequem! Der Druck auf die Firmen, ihr Geschäft zu digitalisieren, wird weiter steigen, weil die Konsumenten das fortan verstärkt nachfragen werden.



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