Putin trotzt den Sanktionen «Der Boxer bewegt sich wieder nach dem K.-o.-Schlag»

Von Philipp Dahm

13.7.2022

Ukraine: Krieg verschiebt sich wieder in den Süden

Ukraine: Krieg verschiebt sich wieder in den Süden

STORY: Seit rund fünf Monaten halten die Kämpfe in der Ukraine nun schon an. Zuletzt war es vor allem der Osten, wo die Gefechte am heftigsten waren. Jetzt scheint sich der Krieg auch wieder stärker in den Süden zu verlagern. Die Informationen aus den Kriegsgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Diese Bilder wurden vom ukrainischen Katastrophenschutz veröffentlicht und sollen die im Süden des Landes liegende Stadt Mykolaiw zeigen. Dort haben ukrainischen Angaben zufolge russische Raketen Häuser getroffen und mehrere Menschen getötet. Nur wenige Kilometer östlich von hier entfernt soll die Ukraine jetzt allerdings auch eine Gegenoffensive gestartet haben, um von Russland erobertes Gebiet wieder unter eigene Kontrolle zu bringen. Nach ukrainischen Angaben wurden Ziele mit Langstreckenraketen beschossen, dabei wurde demnach in dem Ort Nowa Kachowka bei Cherson ein Munitionsdepot getroffen. Die russische Invasion der Ukraine hat am 24. Februar begonnen. Die Regierung in Moskau bezeichnet ihr Vorgehen als Sondereinsatz zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung des Nachbarlandes. Und ein schnelles Ende der Kämpfe ist nicht absehbar.

13.07.2022

Der Rubel ist so stark wie seit 2015 nicht mehr, und Russland macht bisher allein mit dem Öl-Export 138 Milliarden Dollar Gewinn. Die Sanktionen des Westens scheinen wirkungslos, doch sind sie es nicht.

Von Philipp Dahm

«Moskau wirkt heute sehr normal und wunderschön», berichtet Raisa Vlasova nach ihrer Rückkehr nach Israel. «Man merkt nicht, dass etwas verkehrt ist oder dass das Land unter den Sanktionen leidet.»

Wie kann das sein?

Gerade noch haben Banken wie JPMorgan Chase oder die Citigroup prognostiziert, dass das Bruttoinlandprodukt in Russland kräftig sinken wird – um 7 beziehungsweise 9,6 Prozent. Die Sanktionen, die der Westen Moskau wegen des Krieges in der Ukraine auferlegt hat, sollten Wladimir Putin eigentlich den Geldhahn zudrehen.

Doch der Kreml ist weit davon entfernt, bankrott zu gehen. «Der Boxer bewegt sich wieder, nachdem er umgehauen worden ist», drückt es Anton Tabakh aus. Der Chef-Ökonom des Moskauer Finanzinstituts Expert RA sagt bei «Bloomberg»: «Es gab einen K.-o.-Schlag, aber der wurde von den komfortablen Exportpreisen substanziell ausgeglichen.»

Wladimir Putin als Box-Legende Muhammad Ali: Das Bild wurde im Rahmen der «Putin Universe»-Ausstellung 2015 in Moskau gezeigt.
Wladimir Putin als Box-Legende Muhammad Ali: Das Bild wurde im Rahmen der «Putin Universe»-Ausstellung 2015 in Moskau gezeigt.
KEYSTONE

Es geht dabei aber natürlich nicht um irgendwelche Kosten, sondern um die Preise von Gas und Öl, die seit Februar stark angezogen haben. Der Krieg, den der Kreml angezettelt hat, hat die Preise derart steigen lassen, dass sich der Überfall auf die Ukraine quasi selbst finanziert. Russland verzeichnet Rekordeinnahmen: Nachdem der Verkauf unter anderem von Öl und Gas dem Staat im ersten Quartal einen Gewinn von 68,3 Milliarden Dollar beschert hat, sind es im zweiten Quartal dieses Jahres 70,1 Milliarden, so die russische Zentralbank.

Indien kauft russisches Öl wie noch nie

Im Jahresvergleich sind die Öl-Gewinne um das Dreieinhalbfache gestiegen. Auch die Exporte bleiben trotz der Sanktionen erstaunlich hoch: Nachdem im ersten Quartal Waren im Wert von 166 Milliarden Dollar ausgeführt wurden, sind es im zweiten Quartal immerhin noch 153 Milliarden. Allein die Importbilanz lässt erahnen, dass etwas im Argen liegt: Sie sinkt von 89 Milliarden Dollar im ersten auf 72 Milliarden Dollar im zweiten Quartal.

Ölpreis-Entwicklung zwischen September 2021 und Juli 2022.
Ölpreis-Entwicklung zwischen September 2021 und Juli 2022.
Trading Economics

Nicht nur der angestiegene Ölpreis spielt Moskau in die Hände. Nachdem die Produktion bei Kriegsbeginn kurzfristig gefallen war, steigt sie im Juni wieder um 7 Prozent an, weiss «Bloomberg». Der Grund: Das, was Europa nicht mehr kauft, wird kurzerhand nach Asien geliefert. Dank tüchtiger Preisnachlässe importiert etwa Indien so viel russisches Öl wie noch nie

Im Juni sind es satte 950'000 Barrel – das sind mehr als 151 Millionen Liter – pro Tag. Im Vorjahr lagen die Importe noch 23 Prozent darunter. Saudi-Arabien und der Irak liefern dafür zwischen Mai und Juni 13,5 respektive 10,5 Prozent weniger vom schwarzen Gold. Indien holt bei den Öl-Importen aus Russland auf, doch im Verhältnis ist Neu-Delhi nur einer von vielen Käufern.

China und Deutschland immer noch die grössten Kunden

Das Center for Research on Energy and Clean Air sieht Indien in der Liste der Länder, die zwischen dem 24. Februar und dem 3. Juni Öl, Gas und Kohle aus Russland importiert haben, nur auf Rang 9. Ganz oben stehen China und kurz dahinter Deutschland, die fast viermal so viel bezogen haben. Auch Italien und die Niederlande haben noch mehr als das Doppelte gekauft. Alle EU-Staaten zusammen haben seit Kriegsbeginn mehr als 68,4 Milliarden Euro für fossile Brennstoffe nach Moskau überwiesen.

Sprich: Putins Kriegskasse ist prall gefüllt. Das liegt auch am vergeblichen Angriff des Westens auf den Rubel, den US-Präsident Joe Biden auf Ramschniveau herunterdrücken wollte. Anfangs sah es aus, als sei die Operation erfolgreich: Die Währung verlor 50 Prozent an Wert und Biden frohlockte: «Ein Rubel kostet jetzt weniger als ein Penny.»

Doch gut einen Monat später ist der Rubel wieder auf dem Niveau wie zu Beginn des Kriegs – und hat inzwischen seinen höchsten Stand seit 2015 erreicht. Das hat der Kreml dank Kapital-Kontrolle erreicht: Die Zentralbank hat die Zinsen verdoppelt, Konten mit ausländischen Währungen eingefroren, den Umtausch in Fremdwährungen verboten und ausländische Importeure gezwungen, Öl und Gas in Rubel zu bezahlen.

Pralle Kassen für Wohlfahrts- und Industrieprogramme

Der Kreml selbst nutzt die fremden Währungen, um seine Schulden zu zahlen. Weil diese weiter bedient werden, ist das Vertrauen in den Rubel wieder gestiegen. Die Stärke ist aber auch ein Problem: Russische Exporte werden teurer, und auch die Einnahmen aus den Öl-Verkäufen sinken, wenn es für die ausländischen Währungen weniger Rubel gibt.

Die scheinbare wirtschaftliche Stärke lässt nun sogar die westlichen Baken umdenken: JPMorgan und die Citigroup haben ihre Prognosen angepasst – von 7 auf 3,5 beziehungsweise von 9,6 auf 5,5 Prozent weniger Wirtschaftsleistung. «Es gibt nicht das Level von Stress, das wir für 2022 angenommen haben», meint Evgeny Koshelev, Ökonom bei der russischen Rosbank. «Wir sollten eine Verbesserung des Trends erwarten, weil sowohl Budget als auch Geldpolitik stimulieren.»

Konsumentenpreise in Russland.

Trading Economics

Was damit gemeint ist? Es ist nicht alles Gold, was glänzt: Die Konsumentenpreise steigen in Russland stark an. Doch der Kreml kann in seine pralle Kasse greifen und legt Wohlfahrts- und Industrieprogramme auf, um die Wirtschaft zu stützen.

«Es ist eine langfristige Geschichte»

Bei diesen Zahlen ist es kein Wunder, dass Zweifel an der Wirtschaftspolitik aufkommen. «Der Westen muss sich einfach fragen, ob die Sanktionen ihre Ziele erreichen», sagt etwa Roger Köppel in der «Sonntagszeitung»: «Nach meiner Beobachtung tun sie das nicht.» Die Sicht ist nachvollziehbar, greift aber zu kurz. 

«Ich weiss nicht, ob jemand unter den [Staatschef des Westens], die Sanktionen erlassen haben, dachte, dass sie sofort wirken», sagt Polit-Experte Abbas Gallyamov. «Es ist eine langfristige Geschichte, die sich schlussendlich gegen die russischen Autoritäten auswirken wird. Selbst wenn die russische Wirtschaft nicht um 10 Prozent sinkt, wie von einigen erwartet, sondern nur um 3 Prozent, ist das schon eine sehr signifikante Wirkung, die sich negativ auf den Lebensstandard auswirken wird.»

Der Kreml versuche alles, um die Russen glauben zu lassen, der Westen sei für die steigenden Preise verantwortlich. «Aber selbst in den entlegensten Dörfern und Städten wissen die Leute, dass es nicht Joe Bidens schuld ist, wenn ihre Mahlzeiten teurer werden.»

«Russlands Schwerindustrie ist praktisch liquidiert»

In einer Branche erzielen die Massnahmen des Westens deutlich Wirkung: «Russlands Schwerindustrie ist praktisch liquidiert», weiss Leonid Vlasiuk, der Analyst der Putin-Partei Einiges Russland war, bevor er 2021 nach Israel emigrierte. «Sie haben noch einige Reserven, doch weil sie ihre Lager nicht mehr auffüllen können, werden sie nicht mehr in der Lage sein, ihre Panzer zu reparieren oder neue zu bauen. Dasselbe gilt für die Flugzeugindustrie oder Autos.»

Die Fahrzeugproduktion in Russland ist wegen der Sanktionen um 97 Prozent eingebrochen. Und das, was jetzt noch in Russland vom Band läuft, macht das Fahren nicht gerade sicherer. «Heute reparieren sie ihre Flugzeuge, indem sie die Ersatzteile aus anderen Exemplaren holen. Irgendwann ist es mit dieser Möglichkeit auch vorbei», verdeutlicht Vlasiuk. 

Kundin Mitte Mai im russischen Supermarkt: Die Lebenshaltungskosten steigen.
Kundin Mitte Mai im russischen Supermarkt: Die Lebenshaltungskosten steigen.
EPA

Überall dort, wo Hightech im Einsatz ist, kommt es nun zu Problemen in Russland. So wurden bisher alle Bankomaten des Landes in den USA bestellt. Sie sollen nun durch einheimische Produkte mit einem Elbrus-Prozessor ersetzt werden. Ob die sicher sind, ist aber noch nicht bekannt. Ein anderes Beispiel ist die PJSC Sberbank: Die grösste Bank Russlands rezykliert ungebrauchte Kreditkarten, um deren inzwischen knappen Chips wiederzuverwenden.

Das Hightech-Embargo ist ein wirksames Mittel gegen Putins Kriegsmaschinerie, glaubt auch Leonid Vlasiuk: «Die russische Armee hat alle ihre neuen Panzer verloren. Jetzt schicken sie Maschinen [an die Front], die zuletzt in den 60ern einsatzbereit waren, während die Ukrainer die neusten Waffen bekommen.»