Interview «Das Letzte, was die Schweiz braucht, ist Selbstversorgung»

Von Gil Bieler

18.5.2020

Batterien made in China: eine Arbeiterin in einer Fabrik in Nanjing.
Batterien made in China: eine Arbeiterin in einer Fabrik in Nanjing.
Bild: Keystone

Chinageschäfte und Exportverbote: Die Corona-Krise trifft die Wirtschaft hart. Wenn Politiker die Wertschöpfung «nach Hause holen» wollen, ist Professor Simon Evenett von der Universität St. Gallen aber skeptisch.

Herr Evenett, Chinas Exporte lagen im April über den Werten des Vorjahres. Es klingt paradox, aber: Wird China von der Corona-Pandemie profitieren?

Ich glaube, es war mehr eine Erholung vom vorangegangenen Taucher bei den Exporten – eher als ein Zuwachs beim Marktanteil in Übersee. Das ist auch wenig überraschend, da die Exporte aller anderen Länder geschwächt sind.

Wie schlimm wird die Krise den globalen Handel treffen?

Ich glaube, mindestens so schlimm wie die Finanzkrise 2008/09. Während jener fiel das weltweite Handelsvolumen zwischen Spitze und Talsohle um 20 Prozent, und ich erwarte, dass wir nun einen ähnlichen Rückgang sehen werden – wahrscheinlich wird er sogar schlimmer.

Wird die Pandemie auch die internationalen Lieferketten verändern? Dass Unternehmen zum Beispiel versuchen werden, weniger stark von China abhängig zu sein?

Manche Unternehmen werden ihre Lieferketten als Folge grosser Ausfallrisiken anpassen, und einige Politiker werden auch versuchen, die Wertschöpfung «nach Hause» zu holen – obwohl diese Politik ziemlich gefährlich ist. 

Zur Person
Keystone

Simon Evenett ist Professor für internationalen Handel und wirtschaftliche Entwicklung an der Universität St. Gallen (HSG).

Was meinen Sie mit «gefährlich»?

Es ist gefährlich, Unternehmen dazu zwingen zu wollen, weil sie diese Lieferketten anhand von verschiedenen Abwägungen gestalten – Kosteneinsparung gegenüber dem Risiko von Versorgungsschwierigkeiten etwa. Solche Berechnungen machen Unternehmen seit Jahren, also wissen sie, was sie tun. Zu glauben, irgendein Politiker könne das besser, ist naiv.

Sehen Sie schon Anzeichen, dass Unternehmen ihre Lieferketten anpassen?

Bisher nicht. Die meisten Unternehmen, die jetzt von Handelsproblemen betroffen sind, versuchen momentan nur zu überleben. Wir reden hier also über Entscheide, die in zwölf Monaten beziehungsweise zwei Jahren gefällt werden – wenn das Schlimmste dieser Krise überstanden ist.

Gibt es spezifische Branchen, in der solche Anpassungen denkbar wären?

Wahrscheinlich bei den Medizinprodukten.

Da sind ja auch einige Schweizer Firmen gross im Geschäft …

Das stimmt, und die betreiben viel Outsourcing. Aber trotzdem, auch in diesem Bereich werden Unternehmen vielleicht überlegen, wie viel sie nach China auslagern – gleichzeitig wollen sie aber auch nicht zu stark von anderen Quellen abhängig werden. Darum denke ich, dass die Veränderungen im Grossen und Ganzen kleiner ausfallen werden, als viele jetzt erwarten.



Wegen der Krise haben viele Länder den Export von medizinischen Gütern beschränkt oder gar verboten. Ist solcher Protektionismus normal in Krisenzeiten?

Es gibt zumindest immer die Versuchung des Protektionismus. Die Fragen dabei sind, welche Form und welches Ausmass das annimmt – und wie andere Länder darauf reagieren. Diese Debatte können wir jetzt wieder mitverfolgen. Die Exportstopps bei den Medikamenten und medizinischen Gütern sind erheblich und geben Grund zur Sorge. Aber interessanterweise hat sich das Problem noch nicht auf andere Bereiche ausgedehnt – das ist wichtig, könnte sich aber in nächster Zeit auch noch ändern.

Wie gut wäre die Schweiz denn aufgestellt, um die Wirtschaft mehr auf Selbstversorgung zu trimmen?

Ein Wandel hin zur Autarkie würde in der Schweiz zu massiven Einbussen beim Lebensstandard führen. Unser Land versteht es gut, Teile und Komponenten, die anderswo produziert werden, einzuführen und bedeutend aufzuwerten. Oder Produkte zu gestalten, die anderswo viel günstiger hergestellt werden können, und sie dann zu verkaufen. Das Letzte, was die Schweiz braucht, ist also Selbstversorgung.

Wahrscheinlich würden dann auch die Preise steigen, oder?

Ja, die Preise würden steigen, die Auswahl in den Läden würde sich verkleinern, und unser Lebensstandard würde sinken.

Vietnam und andere Länder haben wegen der Krise den Export von Lebensmitteln beschränkt oder gestoppt. Mit welchen Folgen?

Vietnam hat Reis-Exporte mit einem Bann belegt, der dann aber durch ein Kontingent ersetzt wurde – und dieses wird nun übrigens bald wieder aufgelöst. Das ist ein gutes Beispiel für ein Land, das bei der Nahrungsmittelversorgung überreagiert hat und dann zurückgerudert ist. Der einzige Stopp bei der Nahrungsmittelausfuhr, der Auswirkungen im grösseren Ausmass hatte, ist Russlands Beschränkung seiner Weizen-Exporte. Doch diese wurde durch die EU und Australien mehr als kompensiert, weshalb der Weizenpreis auch nicht allzu hoch kletterte. So weit ist, die Nahrungsmittel betreffend, alles in Ordnung.



Aber der Klimawandel wird die Art verändern, wie wir die Welt ernähren. Wie werden Lebensmittel in naher Zukunft gehandelt werden?

Der Druck, der durch den Klimawandel entsteht, wird nicht verschwinden – und diese langfristigen Veränderungen, die schon vor der Pandemie da waren, werden sich fortsetzen. Ich denke, wir werden aber weiterhin Lebensmittel über weite Distanzen verschiffen. Initiativen für lokale Versorgung werden nicht den Effekt haben, den ihre Befürworter sich erhoffen: Die Menschen mögen nun einmal billiges Essen und eine grosse Auswahl – das dürfte so bleiben. Ich glaube, einige hochwertige Lebensmittel werden vermehrt auch hierzulande produziert werden, aber eine eigentliche Transformation erwarte ich nicht.

An den Börsen läuft es trotz Pandemie rund – haben Sie eine Erklärung dafür?

Die Börsenkurse sind wirklich weit davon entfernt, was in der realen Wirtschaft passiert. Ich glaube, die Erklärung für dieses Wachstum – vor allem im angelsächsischen Raum – liegt in der Unterstützung der Notenbanken für Unternehmen. Würde man diesen Stimulus wegnehmen, würden die Aktienkurse stark unter Druck geraten. Man könnte sogar sagen, diese Notenbankenhilfe wird zu einem destabilisierenden Faktor, da sie Spekulationen auf Aktienkurse befeuern.

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