«V-Day» in GrossbritannienEine 90-Jährige schreibt Corona-Geschichte
dpa/toko
8.12.2020 - 19:03
Eine 90-Jährige ist die erste, der Gesundheitsminister bekommt feuchte Augen, und selbst ein Shakespeare wird geimpft. Mit grossen Emotionen beginnt in Grossbritannien die sehnlich erwartete Corona-Massenimpfung. Doch es gibt auch mahnende Worte.
Mit einem Piekser in die linke Schulter hat Margaret Keenan Geschichte geschrieben. Die 90-Jährige aus Coventry war die erste, die am Dienstag in Grossbritannien eine Impfung gegen das Coronavirus erhielt, wie der Gesundheitsdienst NHS (National Health Service) mitteilte. Es war um 6.31 Uhr (Ortszeit/7.31 Uhr MEZ) der Auftakt einer Massenimpfung – nach Regierungsangaben die grösste in der britischen Geschichte. Euphorisch hatte Gesundheitsminister Matt Hancock vom «V-Day» gesprochen – V für «Vaccination» («Impfung»), aber auch V für «Victory», also «Sieg». Als Hancock nun die Bilder der ersten Impfung sah, kamen ihm live im Fernsehen die Tränen.
Grossbritannien hatte vergangene Woche als erstes Land der Welt dem Mainzer Pharma-Unternehmen Biontech und seinem US-Partner Pfizer eine Notfallzulassung für deren Corona-Impfstoff erteilt. Bewohner von Pflegeheimen, medizinisches Personal, alte und gesundheitlich gefährdete Menschen sollen als erste geimpft werden. Noch in diesem Jahr sollen vier Millionen Impfdosen in dem Land eintreffen – insgesamt hat London 40 Millionen Impfdosen von Pfizer bestellt. Mehrere Hundert Millionen weitere Dosen werden von anderen Impfherstellern erwartet, deren Präparate bisher noch nicht zugelassen sind. In China und Russland sind bereits Produkte heimischer Hersteller im Einsatz.
«Ich fühle mich so privilegiert, die erste Person zu sein, die gegen Covid-19 geimpft wird», sagte Keenan, die von Freunden nur «Maggie» genannt wird, der Mitteilung zufolge. In drei Wochen soll die ehemalige Mitarbeiterin eines Juwelier-Geschäfts eine zweite Injektion erhalten. Für den vollen Impfschutz werden zwei Dosen pro Person benötigt. Ihre Landsleute rief «Maggie» dazu auf, sich ebenfalls impfen zu lassen: «Wenn ich sie mit 90 bekommen kann, können Sie es auch.» Stolz zeigte sich auch Krankenschwester May Parsons, die Keenan die Spritze setzte. Dies sei ein «historisches Ereignis», sagte die gebürtige Philippinerin.
Als zweiter soll in der Uni-Klinik in Coventry ein Mann namens William Shakespeare an die Reihe gekommen sein, wie ein BBC-Reporter auf Twitter berichtete. Der 81-Jährige komme wie sein berühmter Namensvetter aus der Grafschaft Warwickshire.
Premierminister Boris Johnson lobte den Impf-Start als «riesigen Schritt vorwärts». Doch klar ist nach Ansicht von Experten: Der Kampf gegen Corona ist noch lange nicht gewonnen. «Der heutige Tag markiert den Beginn des Kampfes gegen unseren gemeinsamen Feind, das Coronavirus», sagte Gesundheitsminister Hancock zwar. Aber er mahnte: «Heute ist ein Tag zum Feiern, doch es gibt noch viel zu tun.»
Dem schloss sich der oberste wissenschaftliche Regierungsberater Patrick Vallance an. Er warnte, eine baldige Rückkehr zur Normalität werde es nicht geben – so sei nicht auszuschliessen, dass auch im Winter 2021/22 noch Masken getragen werden müssten. «Es wird ziemlich lange dauern, um sicherzustellen, dass alle Mitglieder der Risikogruppen und alle schwer erreichbaren Gruppen entsprechend geimpft werden», sagte Vallance dem Sender Sky News.
Zudem ist die logistische Herausforderung gross, weil das Mittel auf minus 70 Grad Celsius gekühlt werden muss. Hancock sprach von einer «Herkulesaufgabe». Die Regierung will Medienberichten zufolge das in Belgien produzierte Präparat notfalls mit Militärjets einfliegen, damit es nicht im befürchteten Brexit-Verkehrschaos stecken bleibt.
Zunächst dienen 50 Kliniken als Impfzentren, doch schon bald sollen etwa Stadien genutzt werden und der Impfstoff soll in Pflege- und Altersheime geliefert werden. Mehrere Ärzte berichteten der Deutschen Presse-Agentur, sie fühlten sich stark unter Druck, die Corona-Dosen zu verabreichen und gleichzeitig ihre tägliche Arbeit fortzuführen.
Grossbritannien ist eines der am stärksten von Corona betroffenen Länder in Europa. Am Dienstag meldete die Regierung 12'282 weitere Corona-Fälle. Insgesamt gab es – mit Stand vom 27. November – rund 73'000 Todesfälle, die mit Covid-19 in Verbindung stehen.