Tamedia-Recherchen deckten vergangene Woche auf, dass mutmasslich Tausende Unterschriftendaten für Volksinitiativen gefälscht worden sind. Das Medienportal sprach von einem «Unterschriften-Bschiss», den die Schweiz erschüttere. Das Ausmass der Fälschungen kann nicht abgeschätzt werden. Verschiedene Strafuntersuchungen laufen. Die Meldungen über Verdachtsfälle betreffen in unterschiedlichem Ausmass rund ein Dutzend eidgenössische Volksinitiativen. Aus heutiger Sicht liegen laut der Bundeskanzlei jedoch keine belastbaren Indizien vor für die Vermutung, dass über Vorlagen abgestimmt wurde, die nicht rechtmässig zustande gekommen sind.
Wurde Unterschriften ohne Auftrag gesammelt?
Gut eine Woche nach den ersten Berichten hat die Affäre einen neuen Dreh erhalten: Laut der Bundeskanzlei sollen gewisse Organisationen, die für Geld Unterschriften sammeln, dies ohne Auftrag getan und Komitees zum Kauf dieser nicht bestellten Unterschriften gedrängt haben. Sie stützt sich dabei auf eine Strafanzeige, über die sie informiert worden ist. Dies könne die Rechte von Stimmberechtigten und die Integrität des Sammelprozesses beeinträchtigen, schrieb die Bundeskanzlei. Namen der Organisationen nannte sie nicht, informierte aber Komitees von Volksinitiativen und Referenden im Sammelstadium und sicherte ihnen Unterstützung zu.
Wer ist zuständig für das Feststellen von gültigen Unterschriften?
Mit Ausnahme des Kantons Genf liegt die Verantwortung bei den Gemeinden. Diese prüfen für jeden Eintrag anhand der zur Feststellung der Identität notwendigen Angaben (Name, Vornamen, Adresse, Geburtsdatum), ob die entsprechende Person im jeweiligen Stimmregister eingetragen ist.
Was ist die Rolle der Bundeskanzlei?
Sie prüft die gesammelten Unterschriften und teilt im Anschluss mit, ob eine Volksinitiative oder ein Referendum zustande gekommen ist oder nicht. Nach Einreichung der Unterschriftenlisten vor Ablauf der Sammelfrist durch das Initiativkomitee bei der Bundeskanzlei prüft ein Auszählteam, ob die eingereichten Unterschriftenlisten und Stimmrechtsbescheinigungen den gesetzlichen Anforderungen entsprechen und somit gültig sind. Die Bundeskanzlei steht im regelmässigen Austausch mit Kantonen, Gemeinden und Komitees. Gemäss eigenen Angaben geht die Bundeskanzlei «seit einigen Jahren» gegen mögliche Unterschriftenfälschungen vor.
Was bedeutet das konkret?
Die Bundeskanzlei hat im Jahr 2022 selber Strafanzeige gegen Unbekannt eingereicht und diese Anzeige mehrfach um neue Verdachtsfälle ergänzt, wie sie schreibt. Seit Anfang Jahr wurden der Bundeskanzlei weitere Fälle von auffälligen Unterschriftenlisten gemeldet, bei denen der Verdacht besteht, dass Dritte anstelle der eingetragenen Stimmberechtigten die Unterschriftenlisten ausgefüllt und unterzeichnet haben. Sie bereitet deshalb eine zweite Strafanzeige vor. Ging es zu Beginn schwergewichtig um Unterschriftenlisten aus Gemeinden der Westschweiz, sind seit vergangenem Winter zunehmend auch Verdachtsmeldungen aus der Deutschschweiz zu verzeichnen.
Gib es stärkere Kontrollen?
Ja. Im Rahmen ihrer Aufgaben bei der Auszählung der Unterschriften führt die Bundeskanzlei nach eigenen Angaben verstärkte Kontrollen durch. Ab sofort unterzieht sie die Listen aus allen Kantonen einer vertieften Prüfung.
Sind weitere Massnahmen geplant?
Die Bundeskanzlei prüft derzeit, ob bei der Prävention, Instruktion, Wissenschaft und Rechtssetzung weitere Sofortmassnahmen angezeigt und nötig sind. Ausserdem hat sie – zusammen mit den Kantonen – die Arbeit an einem engmaschigen Monitoring lanciert. Weitere Massnahmen sind die Beratung der Kantone, Gemeinden und Komitees sowie mögliche technische Lösungen. Grundsätzliche Änderungen der geltenden Vorgaben für Unterschriftensammlungen bedürften gesetzlicher Anpassungen, für die letztlich das Parlament zuständig wäre.
Wie lautet die Kritik an der Bundeskanzlei?
Im Kreuzfeuer der Kritik steht nach dem Bericht zu den mutmasslichen Fälschungen die Bundeskanzlei. Die Mitglieder der zuständigen Parlamentskommissionen haben erst über die Medien vom möglichen Unterschriftenbetrug erfahren. Die Bundeskanzlei habe von Unregelmässigkeiten gewusst, aber weder sie noch der Bundesrat hätten darüber aktiv kommuniziert, lautet die Kritik.
Weshalb hat die Bundeskanzlei nicht früher informiert?
Aufgrund des Amtsgeheimnisses und der laufenden strafrechtlichen Verfahren war es der Bundeskanzlei nach eigenen Angaben «nicht möglich, die Öffentlichkeit über dieses Problem zu informieren». Das erste Anliegen sei es, dass allfällige Täter gefasst werden, hält sie fest. Es gelte auch zu vermeiden, dass die Bundeskanzlei mit ihren Informationen die Meinungsbildung zur einen oder anderen Initiative beeinflusse. Sie begrüsse jedoch die Diskussion, die nun angestossen wurde. Bundeskanzler Viktor Rossi räumte jedoch in einem Gespräch mit Radio SRF ein, dass die Bundeskanzlei die Öffentlichkeit aktiver über die mutmasslich gefälschten Unterschriften hätte informieren müssen.
Wie reagiert das Parlament?
Mit der Rolle der Bundeskanzlei befassen sich die von der Geschäftsprüfungskommission des Ständerats (GPK-S) eingeleiteten Abklärungen. Sie will wissen, ob und wie die Bundeskanzlei ihre Aufgabe wahrgenommen hat. Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates (SPK-N) wiederum hat die Geschäftsprüfungskommission der grossen Kammer eingeladen, den Fall genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie diskutierte auch über Anträge für Gesetzesänderungen, lehnte diese aber vorerst ab. Zunächst sollten die verschiedenen Strafuntersuchungen abgewartet werden.
Gibt es einen elektronischen Ausweg?
Das Berner Kantonsparlament sieht digitales Unterschriftensammeln als mögliche Chance im Kampf gegen Betrügereien. Der Kanton solle aber nicht vorpreschen, hiess es vergangene Woche im Parlament. Die Federführung sollte bei der vom Bund und Kanton getragenen Organisation Digitale Verwaltung Schweiz liegen. Im Parlament wurden Vorteile angesprochen: Eine digitale Unterschrift sei schwieriger zu fälschen als eine von Hand angebrachte, hiess es etwa. Staatsschreiber Christoph Auer räumte ein, dass die digitale Unterschriftensammlung womöglich weniger betrugsanfällig wäre als die physische. Doch gebe es bei E-Collecting andere Gefahren, etwa ausländische Hacker.
Was sagen die Experten?
Experten beurteilen die Berichte zu mutmasslichen Fälschungen beim Sammeln von Unterschriften unterschiedlich. Martin Hilti, Geschäftsführer von Transparency International Schweiz, sagte im Schweizer Radio SRF: «Wenn systematisch und im grossen Stil betrogen wurde, wie das den Anschein hat, dann ist das ein riesiges Problem für unsere Demokratie.» Es leide das Vertrauen in die Demokratie. Die Behörden müssten gewährleisten können, dass künftig nicht mehr betrogen werden könne. Laut Politgeograf Michael Hermann ist nicht ausgeschlossen, dass über Initiativen abgestimmt wurde, die eigentlich gar nicht zustande gekommen wären. «Aber das letzte Wort hatten die Stimmberechtigten.» Hermann beurteilte den Vorfall deshalb als weniger schwerwiegend als einen Abstimmungsbetrug.
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